"Mein Sohn lebt im Dunkeln"

Der Münchner Christian F. sitzt täglich 18 Stunden vor dem Computer. Sein Zimmer verlässt er höchstens nachts. In der AZ erklärt seine Mutter, wie sie gegen dessen Onlinesucht kämpft.
München - Die Frühlingssonne, die erstenwarmen Tage, davon bekommt Christian F. aus Bogenhausen nichts mit. Bei ihm stört die Sonne nur, sie blendet ihn, reißt ihn aus der Welt, in der er am allerliebsten ist. „Mein Sohn lebt nur noch im Dunkeln“, sagt Christians Mutter Petra F. Der 20-Jährige sitzt 12 bis 18 Stunden täglich vor dem Computer, er verbringt sein Leben in der Welt des Onlinespiels „World of Warcraft“.
Es fing an, als Christian 14 Jahre alt war. Damals entdeckte seine Mutter auch, dass er ab und zu Haschisch rauchte – wie viele Jugendliche. Sie machte sich vor allem wegen der Drogen Sorgen, der Computer schien da kein Problem. „Ich dachte mir, besser er sitzt ein paar Stunden vor dem Computer, als dass er draußen irgendeinen Blödsinn macht.“ Sechs Jahre ist das her, seitdem hat das Onlinespiel mehr und mehr Macht über Christians Leben gewonnen. Der Gymnasiast konnte nachnächtlichen Spielexzessen nicht aufstehen, ging ab auf die Realschule.
Dann kamen Depressionen und Panikattacken dazu. Er verließ die Realschule ohne Abschluss, ging zu einem Psychiater. Den Quali konnte er nachholen. „Seitdem macht er fast gar nichts außer schlafen und spielen – seit acht Monaten“, sagt seine Mutter.
Früher, erzählt sie, sei er ganz anders gewesen. „Bis er 13 war, war er ein ganz normales Kind. Er war beliebt, hatte viele Freunde. Heute verwahrlost er immer mehr, er pflegt sich nicht, er interessiert sich für nichts.“ Außer für das Spiel. Die kleinsten Aufgaben, die ihm sein Psychiater stellt, wie regelmäßig einkaufen, schafft er nicht. „Das Spiel bestimmt sein Leben, nicht er“, sagt Petra F.
Dirk P. kann das gut nachfühlen. Der Immobilienfachwirt war 30, als er mit „World of Warcraft“ anfing. Fünf Jahre war er dabei, am Schluss, als er arbeitslos war, zockte er rund um die Uhr. Seit einem Jahr ist er jetzt draußen und sagt: „Das ist eine Sucht, über die viel zu wenig gesprochen wird.“ Der Spieler nimmt in „World of Warcraft“ eine andere Identität an, fightet sich nach oben und kämpft dann in der Gruppe mit anderen. Jeder hat seine Aufgabe, nur gemeinsam funktioniert es. „Man wird dort gebraucht, man hat Erfolgserlebnisse – und das alles in einer riesigen virtuellen Welt, die schön aussieht und sehr vielfältig ist“, schildert Dirk P. die Faszination. „Dort sind auch nicht nur Jugendliche. Ich spieltemit einer Berufschullehrerin, mit Studenten, mit Frührentnern, mit allein erziehenden Müttern.“
In dieser Welt ist es egal, ob man dick ist oder schüchtern, ob man arbeitslos ist oder unsicher. Die neue Identität macht stark. Mit den anderen Spielern wird über Mikrofon gesprochen. „Dadurch hat man das Gefühl, mit Leuten in Kontakt zu sein – aber es geht eben nur ums Spiel“, sagt Dirk P. Die echte Welt, Freunde, Hobbys, all das wurde für ihn unwichtig. „Ich dachte nur noch an das Spiel. Ich vergaß oft sogar zu essen.“ Doch das Spiel macht nicht glücklich. Im Gegenteil. „Es ist ein Ersatzleben. Die Leute werden depressiv, sie gehen kaputt.“
Christian verlässt das Haus nur selten. Er hat zwar noch – anders als viele andere Betroffene – ein paar Freunde, die er abends trifft. „Aber auch das wird seltener. Die machen alle eine Ausbildung, sie entwickeln sich weiter“, sagt seine Mutter. „Bei Christian habe ich das Gefühl, er ist immer noch der 14-jährige Bub. Er ist zwar 20 Jahre alt, aber völlig lebensuntüchtig.“
Ein einziges Mal in all den Jahren hat sie den Stecker rausgezogen. „Er ist völlig ausgerastet“, erzählt sie. Er hat geschrien und Möbel zerschlagen. „Immer, wenn jemand etwas von ihm will, wird er aggressiv. Das ist für ihn pure Belastung.“
So ein Verhalten drängt die Angehörigen wie bei anderen Süchten in die Rolle der Co-Abhängigen. „Ich war lange Zeit wie gelähmt“, sagt Petra F. Inzwischen geht sie in eine Selbsthilfegruppe (siehe unten). „Ich merke, dass ich nicht alleine bin.“ Verblüffend ähnlich sind die Geschichten, die sie da hört. Und sie lernt, dass sie ihrem Sohn nicht hilft, wenn sie seine Sucht unterstützt. „Offenbar muss sein Leidensdruck noch größer werden, damit er etwas unternimmt. Aber das Fallenlassen ist sehr schwer“, sagt sie.
Immer noch kauft sie ein, kocht für ihren Sohn. Sie hat aber jetzt eine Wohnung für ihn gesucht. „Er muss ausziehen, so geht es nicht weiter.“ Als sie ihm von der Wohnung erzählte, schlug er zwei Löcher in den Türstock. Dass er ein Problem hat, sieht er offensichtlich nicht. „Er hält das, was ich sage für Blödsinn. Aber ich glaube trotzdem, dass er merkt, wie ihm sein Leben entgleitet.“
Dirk P. hat selbst die Reißleine gezogen, als er nur noch vor dem Computer saß. „Ich wurde noch einsamer, das hat mich sehr runtergezogen.“ Sein Ausstieg war ein „harter Entzug“, wie er sagt. „Man fällt in ein Loch. Ich wusste gar nicht, was ich mit der vielen Zeit anfangen soll.“ Er hatte außerdem das Gefühl, die anderen im Stich zu lassen. „Das ist, wie wenn der Torwart nicht zum Fußballspiel kommt. Man hat ein schlechtes Gewissen.“ Unterstützung bekam er in einem Forum bei „rollenspielsucht.de“, wo er andere Betroffene fand und Menschen, die schon ausgestiegen sind. Im Forum hilft er jetzt auch anderen. „Ich merke, dass ich dort auch gebraucht werde.“
Petra F. würde sich wünschen, dass auch ihr Sohn sich dort hinwendet. Doch sie weiß, dass sie ihn nicht zwingen kann. Und dass sie sich um sich selbst kümmern muss. Sie quält sich immer wieder mit der Frage, was sie falsch gemacht hat, wann sie wie hätte anders reagieren können oder müssen. „Mein Mann starb, als Christian sechs Jahre alt war. Er schien das gut zu verarbeiten. Aber vielleicht hat er das nur verdrängt und hätte damals schon Hilfe gebraucht.“
Dirk P. ist sicher, dass es immer Gründe für die Onlinesucht gibt. „Das ist eine Flucht. Das Spiel füllt etwas aus, was im echten Leben fehlt.“ World of Warcraft sieht er da als ein perfekt gemachtes Spiel – das Prinzip gelte aber auch für andere Spiele.
Dirk P. spricht jetzt wieder offline und schaut sich fremde Länder nicht am Bildschirm, sondern in natura an. „Das Tollste ist, dass ich gute Freunde habe“, sagt er. Neben dem Job macht er drei Mal die Woche abends noch eine Fortbildung. „Auch, damit ich einen geregelten Ablauf habe.“ Wie bei einem trockenen Alkoholiker sei das, bei dem die Flasche immer vor der Nase stehe.
Die Lebensfreude hat Dirk P. wiedergefunden – und versucht das auch anderen Betroffenen im Internetforum zu vermitteln. Unter seinen Nachrichten hat er als Signatur sein Motto eingetragen: „Das beste Game ist eh das Leben selbst – nur die Grafik ist scheiße:)“
Hilfe für Betroffene
„Das Problem wird unterschätzt“
Christoph Hirte hat kaum Kontakt mehr zu seinem Sohn: Der heute 25-Jährige ist ebenfalls abgetaucht in die virtuelle Welt. Doch der Gräfelfinger will anderen Betroffenen helfen. Er gründete 2007 eine Elterninitiative, dann ein Netz für Ratsuchende und betreibt die Internetseiten www.rollenspielsucht.de und www.aktiv-gegen-mediensucht.de. Dort tauschen sich Betroffene aus, berichten Aussteiger und es gibt Tipps und Ansprechpartner für Eltern und andere Angehörige.
„Das Problem Onlinesucht wird immer noch unterschätzt“, sagt Hirte. Er sieht auch in den sozialen Netzwerken wie Facebook Gefahren für Jugendliche. „Wir wissen von etlichen Menschen, besonders Mädchen, die da suchtgefährdet sind.“ Auch in diesen Netzwerken erstelle man ein anderes Bild von sich selbst, flüchte so vor der Realität. „Immer mehr Menschen verlegen die Kommunikation mit anderen auf die virtuelle Schiene und verlernen den Austausch von Angesicht zu Angesicht“, sagt Hirte.
In München leitet Hirte mit seiner Frau zwei Selbsthilfegruppen: Angehörige treffen sich jeden 3. Montag im Monat. Die Selbsthilfegruppe für Betroffene findet jeden 2.Mittwoch im Monat statt. Jeweils im Selbsthilfezentrum in der Westendstraße 68, von 20.15 Uhr bis 22.00 Uhr. Anmeldungen bitte per E-Mail unter info@rollenspielsucht.de.