Mein Nachbar, der Führer - Teil zwei der AZ-Serie: Die letzten Helden gegen Hitler

Edgar Feuchtwanger ist noch ein Bub, als er den Mann trifft, der ihn und alle anderen Juden ausrotten will. Mit 89 Jahren kehrt er nach München zurück. Das Protokoll einer Zeitreise.
von  Tim Pröse
1938: Adolf Hitlers Privatwohnung mit Fahnenschmuck am Prinzregentenplatz 16. Edgar Feuchtwanger lebte damals schräg gegenüber.
1938: Adolf Hitlers Privatwohnung mit Fahnenschmuck am Prinzregentenplatz 16. Edgar Feuchtwanger lebte damals schräg gegenüber. © VA/Bayer. Staatsbibliothek München

Das Haus am Prinzregentenplatz 16 hat seinen Bewohner heil überstanden, den "Führer" und auch den Krieg, den er entfesselte. Stuck und Schnörkel schmücken die Erker des herrschaftlichen Gebäudes. Auch die Haustür ist noch jene, durch die Hitler ein und aus ging.

In seinem alten Haus ist heute die "Polizeiinspektion 22" untergebracht. Die schwere, große Eichenholzpforte vermag Edgar Feuchtwanger kaum allein zu öffnen. Er tritt ein in das Haus, in dem der Unheimliche heimisch war. Auf 398 Quadratmetern Wohnfläche.

Hier geht's zum ersten Teil der Serie: Der Mann, der beinahe den Holocaust verhindert hätte

Edgar Feuchtwanger ist ein Neffe des legendären Schriftstellers Lion Feuchtwanger. Im Dunstkreis des Bösen wächst der kleine Edgar auf, im Auge eines Orkans, der sich von hier aus über die halbe Welt ausbreiten wird: Zehn Jahre ist Hitler Edgar Feuchtwangers Nachbar in München.

"Dem wachsen ja Haare aus der Nase!"

Bis 1939 lebt der Junge mit seinen jüdischen Eltern in der Grillparzerstraße, schräg gegenüber von Hitlers Privatwohnung im zweiten Stock. Von 1929 bis zu seinem Selbstmord am 30. April 1945 blieb Hitler am Prinzregentenplatz gemeldet.

Im Jahr 1933 läuft der kleine Edgar Feuchtwanger über den Prinzregentenplatz und steht plötzlich vor ihm. Vor Hitler. "Dem wachsen ja Haare aus der Nase!", bemerkt er. Sie fallen dem Jungen sofort auf, weil er zu ihm hinaufsehen muss. Gebannt blickt der Achtjährige hoch zu Hitler, mitten in sein Gesicht. Und in seine Nase.

Er schaut nicht aus Neugierde so genau, sondern weil er versteinert ist vor Schreck. Zum ersten Mal steht er seinem Nachbarn gegenüber. Das ist er also. Der Mann, der ihn und alle anderen Juden ausrotten will. Das ist er also, der "Führer". Der "Führer" von nebenan.

"Wenn Hitler wüsste, dass ich heute hier bin, er würde toben"

Vor drei Jahren kam Feuchtwanger wieder nach München, in seine Heimat, aus der Hitler den 14-Jährigen vertrieben hatte. Feuchtwanger ist 89 Jahre alt, als wir uns treffen. Er lebt seit seiner Flucht in England. Zurück nach Deutschland, in Hitlers Lieblingsstadt, kommt er, weil er eingeladen ist, um aus seinem Buch zu lesen, in dem seine Kindheitserlebnisse aufgeschrieben sind: Als Hitler unser Nachbar war.

Am Morgen vor der Lesung unternehmen wir eine kleine Zeitreise. Zusammen gehen wir in Hitlers ehemalige Privatwohnung im zweiten Stock. Es ist das erste Mal in seinem Leben, dass Edgar Feuchtwanger diesen Schritt tut. Er ist gespannt, aber er lächelt: "Wenn Hitler wüsste, dass ich heute hier bin, er würde toben."

Der einstige Universitätsprofessor schaut ins Halbdunkel des Flurs. Das Eichenparkett der Wohnung stammt noch von damals. Es knarzt und knirscht bei jedem Schritt so laut, dass es über die stillen Flure hallt. Die Jugendstilornamente an der Decke ließ Hitler herausmeißeln. Er wollte es kantig-arisch. Stattdessen wünschte er einen mit Marmor verkleideten Kamin in seinem Wohnzimmer, in dem heute zwei Beamte hinter Bildschirmen sitzen.

Edgar Feuchtwanger auf dem Balkon der elterlichen Wohnung. Foto: Patrick Meroth

In der "Kristallnacht" holen die Nazis seinen Vater ab

Tausende Male ist Feuchtwanger unter diesem Zimmer auf dem Platz vorbeigegangen als Junge. Genauso oft hat er sich ausgemalt, wie es wohl in der Wohnung aussehen könnte.

Er hatte doch meist nur den Schattenriss des Mannes hinter den Vorhängen gesehen. Dazu die SS-Wachen, wie sie vor dem Eingang auf und ab paradierten. Er hatte das Knallen der Stiefel in seinem Kinderzimmer gehört. Das Quietschen der Reifen, wenn der Tross mit Hitler Richtung Obersalzberg aufbrach.

Damals ängstigte es ihn. Oft lag er nachts wach in seinem Kinderbett, weil irgendein Geräusch an der Haustür ihn aufschrecken ließ. Jederzeit hätte es ein Gestapo-Trupp sein können. In der "Kristallnacht" 1938 holten die Nazis Feuchtwangers Vater ab und brachten ihn nach Dachau. Es ist ein Wunder, dass er Wochen später wieder freikam. Und es schaffte, die Ausreise für die Familie zu organisieren.

Heute arbeitet Herr Führer in dem Haus

Wenn die Polizisten ihren Arbeitsplatz in Bogenhausen betreten, müssen sie als Erstes in Hitlers früheres Schlafzimmer. Dort stehen ihre Spinde, dort legen sie ihre Uniformen an. Hielt sich Hitler in München auf, tauschte er seine Uniform gegen einen Anzug. Und wechselte gern die Rolle. Der Tyrann gab sich als Bohemien.

Er schlief lang, studierte Architekturentwürfe, speiste bei seinem Lieblingsitaliener, der Osteria Bavaria in der Schellingstraße. Oder ließ sich von Frau Winter bekochen. Seiner Haushälterin schenkte er eine Nazi-Adler-Brosche aus Rubinen.

4176 Mark Miete zahlte Hitler bis 1936 im Jahr. So steht es im Mietvertrag des "Kunstmalers und Schriftstellers", wie er dort genannt wird. 1936 kaufte seine Partei das Haus. Heute, in der Polizeiinspektion 22, arbeitet hier ein Polizist, über dessen Nachnamen seine Kollegen schmunzeln: Er heißt Führer. Es gibt auch eine Frau Braun und einen Herrn Bormann im selben Haus.

Recht und Ordnung herrschen nun an diesem Ort, demonstrativ. Die Frühlingssonne scheint in Kegeln in die Räume und lässt den gebohnerten Boden glänzen. Ab und an knallen Türen im Durchzug. Ihre Klinken hat Hitlers Hofarchitekt Paul Ludwig Troost gestaltet. Es sind die gleichen wie im Haus der Kunst, das weiter unten an der Prinzregentenstraße liegt. Hitler ließ den Bau errichten und vollstellen mit gigantischen Germanen aus Marmor.

Im Eckzimmer erschoss sich Hitlers "einzig wahre Liebe"

Selbst die glanzvolle Prinzregentenstraße war dem Ex-Mieter zu eng. Er wollte sie pompös erweitern und München zur "Führerstadt" ausbauen lassen. So viel Größenwahn in seinen Plänen auch steckte, in seinem wahren Leben regierte die Spießigkeit. Darüber muss Edgar Feuchtwanger schmunzeln, wenn er durch Hitlers altes Reich geht.

Nun steht er in der alten Bibliothek, in der auch nach acht Jahrzehnten noch der Geruch des alten Eichenholzes hängt. Im kleinen Eckzimmer, in dem Hitlers Nichte Geli Raubal bei ihrem geliebten "Onkel Alf" lebte, steht heute Gerümpel.

1931 erschoss sich Raubal hier mit Hitlers Pistole. 17 Stunden soll ihr Todeskampf gedauert haben. Kurz danach entdeckte die Haushälterin die Leiche. Was vorher passiert war, ist unklar.

Das Zimmer ließ Hitler in seine ganz persönliche blumengeschmückte Kultstätte samt Bronzebüste seiner Nichte umbauen. Niemand durfte das Zimmer mehr betreten. An ihrem Todestag schloss er sich jedes Jahr darin ein und gedachte "seiner einzig wahren Liebe".

Als er wieder durch die gewaltige Eingangstür zurück ins Freie tritt, atmet er auf. Mit welchen Gefühlen er an diesen Ort gereist ist? Edgar Feuchtwanger lächelt, dann sagt er: "Mit gar nicht mal so vielen. Nur eines habe ich ganz deutlich gespürt: Ich habe überlebt. Er nicht."


Entnommen aus dem Buch "Jahrhundertzeugen. Die Botschaft der letzten Helden gegen Hitler. 18 Begegnungen" des ehemaligen AZ- Chefreporters Tim Pröse. Es ist im Heyne-Verlag erschienen (320 Seiten. Gebundene Ausgabe: 19,99 Euro, Kindle- Edition: 15,99 Euro).

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