Massengrab Mittelmeer: Reise in die Finsternis

München - Burhaan hat überlebt. Mit steifgefrorenen Fingern, fast wahnsinnig vor Durst, klammert er sich an die Felsen der Uferpromenade von Sliema auf Malta. Mit letzter Kraft zieht er sich hinauf. Und bleibt keuchend liegen.
Sprachstudenten, die an einem Lagerfeuer in der Nähe feiern, entdecken den Mann aus dem Meer. „O my goodness: a refugee“, ruft ein Mädchen. Die Amerikaner alarmieren den Notarzt, geben Burhaan trockene Kleidung – und ein Bier, weil sie nichts anderes haben. Das Ende eines unvorstellbaren Horror-Trips.
Der 23-Jährige ist der Neffe der Münchner Dolmetscherin und Frauenrechtlerin Fadumo Korn. Beide stammen aus Somalia, wo seit Jahrzehnten ein blutiger Bürgerkrieg herrscht. Weil sie wütend auf die Politiker ist, die das tausendfache Sterben im Mittelmeer zulassen, erzählt die 51-Jährige in der AZ die Geschichte ihres Neffen. Eine Geschichte, die kaum zu ertragen ist.
„Burhaan ist der Sohn meines ältesten Bruders“, beginnt sie. „Er wurde in der Nähe von Mogadischu geboren und ist seit seinem achten Lebensjahr auf der Flucht.“ Der Auslöser: Bei einem Bombenanschlag marodierender Milizen wird Burhaans Vater tödlich verletzt. Den Bub trifft eine Gewehrkugel am Gesäß. Die Splitter stecken bis heute in seinem Fleisch.
Ein Onkel bringt Burhaan und seinen kleinen Bruder Qalbi nach Kenia. Dort werden die Buben eingeschult. Doch Burhaan kann sich nicht konzentrieren, nicht still sitzen, nicht lange an einem Ort bleiben. „Er ist innerlich immer auf der Flucht, schläft höchstens zwei Stunden am Stück – und immer in seinen Schuhen.“
Er bricht die Schule ab und wird Fitness-Trainer. „Ja wirklich“, sagt Fadumo Korn stolz. „Er hat sich Hanteln gebastelt und sich mit Ernährung beschäftigt, obwohl er weder richtig lesen noch schreiben konnte.“ Burhaan malt ein Paar muskulöser Arme auf ein Segeltuch, spannt es auf und trainiert dahinter seine Kunden – mitten in einem der Armenviertel Nairobis. „So und mit einigen Tagelöhner-Jobs hat er sein Geld verdient.“ Fadumo Korn hält über das Internet Kontakt zu ihm und unterstützt ihn finanziell, wenn es trotz allem eng wird.
Dann werden in dem Slum mehrere Männer ermordet. „Er sagt, manchen Leichen hätten Organe gefehlt“, erzählt die Tante. Burhaan bekommt Angst. „Ich will weg“, schreibt er über Facebook. „Wohin?“, fragt Fadumo Korn. „Ich weiß es nicht“, antwortet er. Die Münchnerin hat ein ungutes Gefühl. „Wehe, du wagst dich aufs Meer.“ Dann reißt die Verbindung zu Burhaan ab – für Monate.
Schließlich gesteht der kleine Bruder, dass sich Burhaan auf den Weg nach Libyen gemacht hat. Und dass er von dort nach Europa will. Übers Mittelmeer.
Doch es kommt anders: Burhaan wird in Libyen aufgegriffen und als illegaler Einwanderer inhaftiert. In München erreicht seine Tante ein Anruf aus der Hölle: „Wenn du kein Geld schickst, foltern sie mich mit einem Stromkabel“, fleht Burhaan Fadumo Korn an. Im Hintergrund hört sie Menschen vor Schmerzen schreien.
Die Dolmetscherin weiß, zu welchen Grausamkeiten die Folterknechte in den Gefängnissen von Tripolis fähig sind. Zu oft hat sie für das Jugendamt, Traumapsychologen oder Psychiater übersetzt, was die Opfer schildern. Sie überweist 1000 Euro. Sofort. „Ich hätte jeden Preis gezahlt, um ihm zu helfen.“
Es dauert zwei Wochen, die Fadumo Korn endlos erscheinen, bis sich der Neffe wieder meldet. „Ich bin frei“, sagt er am Telefon. „Versprich mir, dass du zurück nach Kenia gehst“, fordert die Tante. Das könne er nicht, sagt Burhaan. Dann hört Fadumo Korn nichts mehr von ihm. Monatelang. „Wir haben gedacht, er ist tot.“
Was die Münchnerin nicht ahnt: In den USA sammelt währenddessen ein anderer Teil der Familie Geld. Im Geheimen. Burhaan braucht 750 Euro. So viel verlangt der Schlepper für die Überfahrt von Libyen nach Italien.
Es ist stockdunkel, als er von den Schleusern auf ein altes Militär-Schlauchboot geführt wird. Burhaan schätzt, dass mehr als 400 Menschen daraufgezwängt werden. Viele Kinder, viele Frauen, viele schwanger. In der Finsternis verliert er schnell die Orientierung. Wären da nicht die Sterne, wüsste er nicht einmal, wo oben und wo unten ist.
Sie sind erst ein paar Stunden unterwegs, als der Motor versagt. Das Schlauchboot wird zum Spielball der Wellen. Tagelang treibt es manövrierunfähig auf dem offenen Meer.
Das Süßwasser geht aus. Viele Menschen sterben, vor allem Frauen. Die Toten werden von den Schleppern über Bord geworfen. Bei manchen ist sich Burhaan nicht sicher, ob sie nicht bloß ohnmächtig sind.
Ein junges Mädchen trinkt in seiner Not den letzten Tropfen Diesel. Eine tödliche Verzweiflungstat.
Wer noch lebt, muss das Meerwasser aus dem Boot schöpfen, das ständig von außen nachläuft. Sonst gibt es Prügel von den Schleusern.
In der vierten Nacht sehen die Schiffbrüchigen Lichter. Eine Küste. Italien? Oder erst Malta? Ein Schiff nähert sich. Doch anstatt die Flüchtlinge zu retten, versucht die Mannschaft, das Schlauchboot wieder hinaus aufs Meer zu schleppen.
Burhaan sieht nur eine einzige Chance: Er springt ins Wasser. Die 300 Meter bis an Land könnte er schaffen. Schließlich hat er immer viel trainiert. „Du musst aufpassen, dass du nicht in die Nähe der anderen Flüchtlinge kommst“, schärft er sich ein. „Viele von ihnen können nicht schwimmen. Die ziehen dich sonst unter Wasser.“
Da hört er eine der Schwangeren schreien. Sie rudert mit den Armen, ruft um Hilfe, geht unter. Taucht wieder auf, wird erneut in die Tiefe gezogen. Wider alle Vernunft schwimmt Burhaan zu ihr und versucht, sie mit sich gen Ufer zu ziehen. Doch die Frau ist zu schwer. Er muss sie loslassen. Das Bild ihres gedrungenen Körpers, der langsam im dunklen Wasser versinkt, wird ihn nie wieder loslassen.
Wie viele seiner Leidensgenossen es ans rettende Ufer von Malta geschafft haben, weiß Burhaan nicht. „Ich habe niemanden am Strand gesehen“, sagt er.
Burhaan wurde Anfang 2013 in Sliema angespült. Wieder bei Kräften, rief der Totgeglaubte seine Tante an. „Ich bin in Malta. Bist du mir böse?“
Wenig später standen sich die beiden am örtlichen Busbahnhof gegenüber. „Ich dachte, da kommt mein Bruder auf mich zu: ein großer, sanfter, schüchterner junger Mann, der gar nicht mehr aufhören konnte zu weinen“, erinnert sich Fadumo Korn gerührt. „Es war ein unglaubliches Glücksgefühl.“ Seit Januar 2015 lebt Burhaan bei seinen Verwandten in Amerika.
„So lange Menschen wie er in ihren Heimatländern keine Perspektive haben, werden sie versuchen, nach Europa zu gelangen“, sagt Fadumo Korn. „Und im Moment gibt es keine andere Möglichkeit als über das Meer.“