Interview

"Manche weinen, manche sind wie erstarrt": Was Krisentelefon-Seelsorger nach dem Anschlag in München Betroffenen raten

Nicht nur die Verletzten und Angehörigen der Opfer leiden nach der Todesfahrt auf der Seidlstraße. Viel mehr Münchnerinnen und Münchner haben Albträume, Angst oder quälende Erinnerungen. Was eine Expertin einer Krisen-Hotline Betroffenen rät.
von  Irene Kleber
"Erzählen Sie mal, was Ihnen passiert ist": Ulrike Dahme sitzt seit dem Abend nach der Todesfahrt am Krisentelefon der Telefonseelsorge.
"Erzählen Sie mal, was Ihnen passiert ist": Ulrike Dahme sitzt seit dem Abend nach der Todesfahrt am Krisentelefon der Telefonseelsorge. © Sigi Müller

München Sie gehören zu den ersten, die direkt nach dem Anschlag, bei dem ein Mann mit einem Mini Cooper in eine Menschenmenge gerast ist, ans Münchner Krisentelefon geeilt sind: die Telefonseelsorger der katholischen und evangelischen Kirche. Rund 100 ehrenamtliche Männer und Frauen sind für "Großschadenslagen" geschult. In Dreierteams und Vier-Stunden-Schichten sitzen sie seit Donnerstagabend in einem Büro in der Innenstadt und nehmen die Anrufe von Betroffenen entgegen. Die AZ hat mit Ulrike Dahme gesprochen, die Theologin (60) leitet seit sieben Jahren als Stellvertreterin die katholische Telefonseelsorge.

70 Anrufe auf der Krisenhotline seit dem Anschlag

AZ: Frau Dahme, in welcher seelischen Verfassung rufen Betroffene nun schon seit sechs Tagen bei Ihnen an?
ULRIKE DAHME: Manche Anrufer weinen, manche sind erstarrt. Manche wirken auch erst mal ganz sachlich, und dann bricht aus ihnen heraus, dass sie Angst haben, auf die Straße zu gehen. Seit dem Anschlag haben sich ungefähr 70 Menschen bei uns gemeldet.

Was sagen Sie den Anrufern als Erstes?
Wir sagen: Gut, dass Sie anrufen und laden zum Erzählen ein. Das tut gut in einer akuten Belastungssituation. Es sind Menschen darunter, die gesehen haben, wie das Auto in ihre Kollegen gerast ist. Andere, die weiter vorn im Demozug gelaufen sind, aber die Schreie und den Schuss gehört haben. Angehörige von Opfern. Auch Freunde und Kollegen, die nicht direkt dabei waren, aber trotzdem fürchterlich trauern oder nicht mehr schlafen können.

Trauernde am Anschlagsort: An der Seidlstraße starben am 13. Februar eine Mutter (37) und ihre zweijährige Tochter, als ein afghanischer Asylbewerber mit einem Mini Cooper in die hinterste Gruppe einer Gewerkschaftsdemonstration gerast ist. Mindestens 37 weitere Menschen wurden teils schwer verletzt.
Trauernde am Anschlagsort: An der Seidlstraße starben am 13. Februar eine Mutter (37) und ihre zweijährige Tochter, als ein afghanischer Asylbewerber mit einem Mini Cooper in die hinterste Gruppe einer Gewerkschaftsdemonstration gerast ist. Mindestens 37 weitere Menschen wurden teils schwer verletzt. © dpa

"Man ist ja mitbeteiligt"

Sie zeigen ähnliche Reaktionen wie Menschen, die sehr nah dran waren?
Ja, man ist ja mitbeteiligt. Jemand erzählte: Meine Kollegin ist verletzt worden. Ich habe Bilder im Kopf, das macht mich fertig, ich halte das kaum aus. Das ist völlig normal. Es ist in Ordnung, sich so zu fühlen.

Wie können Sie trösten?
Wir halten zunächst zusammen die Situation aus. Wir erklären, was im Schockzustand im Körper passiert. Dass die Gefühle eine normale Reaktion auf eine völlig unnormale Stresssituation sind: Erstarrung, Antriebslosigkeit, Angst, Hilflosigkeit, Wut. Manche erzählen von quälenden Erinnerungen oder Erinnerungslücken. Auch von Sinnlosigkeit. Es rufen auch Menschen an, die Schuldgefühle haben, weil sie mittendrin waren, aber ihnen ist nichts passiert, nur den anderen.

Minuten nach der Todesfahrt in der Münchner Seidlstraße mit zwei Toten und mindestens 37 Verletzten: Retter bergen noch Opfer, Polizisten untersuchen den Mini Cooper, mit dem der mutmaßliche Täter in die Menschenmenge gerast ist.
Minuten nach der Todesfahrt in der Münchner Seidlstraße mit zwei Toten und mindestens 37 Verletzten: Retter bergen noch Opfer, Polizisten untersuchen den Mini Cooper, mit dem der mutmaßliche Täter in die Menschenmenge gerast ist. © dpa

"Die Gefühle nicht unterdrücken"

Wie lange kann das andauern?
Vielen Betroffenen geht es nach drei Tagen schon besser. Manche stellen nach Wochen fest, dass sie noch keine Menschen sehen wollen. Schlecht schlafen. Vielleicht mehr trinken als sonst, um sich zu beruhigen. Dann sollte man sich psychologische Hilfe suchen.

Was kann man tun, damit es einem schnell besser geht?
Die Gefühle nicht unterdrücken und auf seine Bedürfnisse achten. Wir raten, alltägliche Dinge zu tun oder das, was einem guttut. Bei einem sind das Spaziergänge, beim anderen, dass er sich mit Freunden trifft. Wir sagen aber auch: Erwarten Sie nicht, dass die Bilder einfach so verschwinden, es braucht Zeit. Wenn jemand sich nicht arbeitsfähig fühlt, ermuntern wir, sich krankschreiben zu lassen.

"Nicht darüber hinwegtrösten, nicht bagatellisieren"

Das alles kann man ja kaum in wenigen Minuten besprechen.
Wir sprechen eine Viertel-, manchmal auch eine halbe Stunde oder mehr. Wir reden so lange, bis die Anrufer sich besser fühlen.

Wie sollten Angehörige, Freunde oder Kollegen mit Betroffenen umgehen?
Die Aufgabe für das Umfeld ist auch in den nächsten Tagen noch, mit den Betroffenen zu sprechen, ohne einfach darüber hinwegzutrösten. Nicht bagatellisieren. Es hilft nicht, zu sagen: Das wird schon alles wieder gut. Sondern Raum geben, die Gefühle auszuhalten. Das ist nicht leicht.

Wie lange wird Ihr Team noch am Krisentelefon bleiben?
Bis Mittwochabend in dieser Woche. Dann wird unsere Akutkrisennummer abgeschaltet und es übernehmen die städtischen Berater selbst. Deren Hotline wird noch einige Monate lang für alle, die Hilfe brauchen, erreichbar sein.


Noch bis Mittwochabend (19.2.) ist das Krisentelefon der Telefonseelsorge erreichbar: Tel: 089/ 12 71 85 90. Erreichbar bleibt weiter die Hotline der Stadt für Anschlagsbetroffene: Tel: 089/ 233-77 44 44 (Mo-Do 9-17 Uhr, Fr 9-13 Uhr). Mail: anlaufstelle130225@muenchen.de

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