Maistraße: Pfusch? Millionenklage gegen Ärzte
Bei der Geburt bekommt ein Kind 20 Minuten lang keinen Sauerstoff – heute ist es geistig behindert. Die Eltern klagen auf Schmerzensgeld und Schadenersatz
MÜNCHEN Tinas (16, Name geändert) Hände tun nicht immer, was sie will, die Feinmotorik ist gestört, sie leidet unter spastischen Zuckungen. Das junge Mädchen hat zudem eine Niereninsuffizienz, die eine spätere Dialyse-Behandlung wahrscheinlich macht. Auch muss das geistig behinderte Kind eine Sonderschule besuchen. All dies sind Folgen einer schweren Geburt, bei der das Mädchen über 20 Minuten keinen Sauerstoff bekam und reanimiert werden musste.
„Sie war praktisch tot”, erklärt Anwalt Wolfram Hirche. In einer Not-OP wurden Mutter und Kind gerettet. Die Eltern machen die Geburtshelfer in der Münchner Uni-Klinik an der Maistraße verantwortlich und klagten. Die Schmerzensgeld-Forderung: 95000 Euro. Doch darüber hinaus will die Familie die Feststellung vom Gericht, dass die Ärzte auch für künftige materielle Schäden zu haften haben. Und das, sagt Wolfram Hirche, „kann in die Millionen gehen”.
Tatsächlich hatte die Kammer vor fünf Jahren einem Top-Manager, der durch einen Behandlungsfehler zum Pflegefall wurde, mit Blick auf sein hohes Einkommen einen Schadenersatz von 5 Millionen Euro zugebilligt.
Tina hätte ohne ihre Behinderung wie ihre Eltern (beide arbeiten als Ärzte) und ihre Geschwister vielleicht eine akademische Laufbahn angestrebt. Dementsprechend hoch wäre das Gehalt gewesen, das ihr zeitlebens entgeht.
"Ich wollte den Kaiserschnitt und bin anders beraten worden"
Zu Beginn des Prozesses schlug die Kammer Tinas Eltern und den Beklagten deshalb einen Vergleich von 900000 Euro vor, der aber nicht zustande kam.
Ein Hamburger Professor kritisierte, dass unmittelbar vor der Geburt trotz des Verletzungsrisikos „kristellert” wurde (mit der Hand wird das Kind von außen in Richtung Beckenausgang geschoben). Und dass die Hebamme nicht auf das auffällige CTG (Cardiotokographie), das unter anderem die Herztöne des ungeborenen Kindes misst, reagiert habe. Immerhin waren auch die beiden ersten Geburten bei Tinas Mutter sehr problematisch gewesen: Einmal musste das Kind per Kaiserschnitt geholt werden. Diese Vorgeschichte hätte die Hebamme nach Ansicht des Experten alarmieren müssen.
Doch in dieser entscheidenden Stunde am 15. März 1995 entschied die Hebamme, dem CTG keine große Bedeutung beizumessen. Der Muttermund hatte sich schließlich geöffnet. Die Geburtshelferin hoffte auf eine schnelle Geburt. Und irrte sich.
Dennoch: „Das ist nach den Regeln der Kunst”, urteilte Diethelm Wallwiener. Der Tübinger Experte konnte kein Verschulden bei den Geburtshelfern finden. Im Nachhinein sei man immer schlauer, hätte man den Kaiserschnitt früher ansetzen müssen. Die Erfolgs-Aussichten der Klage sinken durch dieses Gutachter-Urteil dramatisch.
Doch Tinas Mutter ließ sich davon nicht überzeugen: „Ich wollte den Kaiserschnitt und bin anders beraten worden.” Spätestens als die Komplikationen auftraten, hätte man die Entscheidung zur Vaginal-Geburt umschmeißen müssen, findet die Kinderärztin.
Das Gericht will nun am 2.November ein Urteil fällen - oder ein neues Gutachten in Auftrag geben.
Wie viel ist ein Kinderleben wert? In der Mittwochsausgabe der AZ erklärt ein Rechtsexperte auf Seite 9, wie sich Schadensersatzansprüche zusammensetzen