Luise (12) von Freundinnen ermordet: Experten erklären, wie es dazu kommen konnte

Freudenberg/München - Es ist kaum zu begreifen: Zwei Mädchen, zwölf und 13 Jahre alt, haben gestanden, die zwölfjährige Luise aus Freudenberg erstochen zu haben. Ein Einzelfall? Auf den ersten Blick nicht – doch täuscht der vielleicht?
Juni 2022: Zwei Buben (13) und (14) ersticken in Salzgitter ein 15-jähriges Mädchen. Im August 2022 ersticht in Essen ein 15-Jähriger seinen 19-jährigen Bruder im gemeinsamen Zimmer. Bei Hannover erschlägt ein 14-Jähriger im Januar 2023 einen Freund (14) mit einem Stein. Liest man solche Polizeimeldungen, fragt man sich: Wie kann so etwas passieren? Warum töten Kinder? Und: Nehmen diese Taten zu? Die AZ hat nachgeforscht.
Kinder als Straftäter: Kriminologe spricht von absoluten Einzelfällen
Fälle, in denen Kinder unter 14 Jahren als Tatverdächtige registriert werden, sind selten – gerade im Bereich der Gewaltkriminalität. Laut Polizeilicher Kriminalstatistik (PKS) ist 2021 die Zahl der tatverdächtigen Kinder in diesem Bereich gegenüber dem Vorjahr von 7.103 auf 7.477 angestiegen. Fokussiert man sich nur auf Straftaten gegen das Leben, waren es 19 verdächtige Kinder (2021), darunter vier Mädchen – im Vergleich zu elf im Jahr 2020.
Klaus Boers ist Kriminologe und Professor an der Universität Münster. Er spricht von absoluten Einzelfällen und verweist ebenfalls auf die Statistik. "Auf lange Sicht ist kein Anstieg der Fälle zu erkennen." Außerdem müsse man beachten, dass es sich bei den Zahlen um polizeilich Verdächtige handelt und die Summe der tatsächlichen Täter noch einmal geringer sein kann. "Über die Gründe kann man kaum etwas sagen, da die Datenlage dies einfach nicht hergibt."
Psychologin hält mangelnde Emotionskontrolle für mögliche Ursache
Auch Mechthild Schäfer, Professorin am Institut für Psychologie der LMU, sagt, dass Tötungen wie die der zwölfjährigen Luise immer als extreme Einzelfälle betrachtet werden müssten. Eine mögliche Ursache solcher Taten könne sein, dass manche Kinder ihre Emotionen nicht kontrollieren könnten. Hinzu käme: "Die notwendige Fähigkeit, die Folgen ihrer Handlungen abzusehen, ist bei Kindern noch in der Entwicklung." Auch das Verhalten nach der Tat ließe sich so erklären: "Menschen bekommen nach solchen Handlungen oftmals Panik, lassen etwa ihre Opfer zurück und machen dadurch alles noch schlimmer.
Im Mittelpunkt stehen für die Wissenschaftlerin Präventivmaßnahmen. Die Schulen hätten dabei eine zentrale Bedeutung, sagt sie. "Sie haben die pädagogische Aufgabe, für den Umgang miteinander und mit den eigenen Emotionen einen Entwicklungsraum immer wieder zu öffnen und zu sichern." Wichtig sei vor allem, so genannte "Problemkinder" nicht von vornherein zu stigmatisieren.
Unter 14-Jährige können nicht verurteilt werden
Auch für Kriminologe Boers sind die Gründe entweder in schweren psychiatrischen Problemen oder in der Sozialisation der Kinder zu finden. Er sagt ebenfalls, man müsse hier ansetzen und den Kindern den Umgang mit Gefühlen sowie Impulskontrolle vermitteln. Was bei Kindern noch recht schwierig sei. Bei Jugendlichen und Heranwachsenden hätten solche Maßnahmen jedenfalls zu einem Rückgang der Gewaltkriminalität beigetragen.
Kinder unter 14 Jahren gelten in Deutschland nach dem Gesetz als schuldunfähig. Sie sind damit auch strafunmündig, können also nicht vor Gericht gestellt oder verurteilt werden. Hintergrund: Es wird davon ausgegangen, dass sie die Folgen ihres Handelns noch nicht ausreichend überblicken können.
Fälle werden nach Ermittlungen an Jugendbehörden übergeben
In Fällen wie dem von Luise werden zwar Ermittlungen durchgeführt, also Tathergang, Täter und Motive geklärt. Am Ende der Polizeiarbeit werden die jeweiligen Fälle dann aber an die Jugendbehörden weitergeleitet. Maßnahmen wie eine psychiatrische Behandlung, eine Unterstützung der Eltern bei der Erziehung oder eine Unterbringung im Heim werden je nach Fall angepasst. "Kinder, die Täter sind, brauchen individuelle Unterstützung", bestätigt Schäfer.
Die Debatte um eine Herabsetzung der Strafmündigkeit hält sie für nicht zielführend. "Soll man denn Elfjährige ins Gefängnis stecken? Was sollen sie dort lernen?" Viel wichtiger sei Prävention.
Auch Klaus Boers ist der Meinung, dass eine solche, auf wissenschaftlichen Erkenntnisse basierende Grenze durch Einzelfälle nicht angetastet werden sollte. "Man kann nur wirksam jemanden bestrafen, der einsichtig ist", sagt der Kriminologe. "Kinder, die nach allem, was wir wissen, nicht einsichtsfähig sind, zu bestrafen, wäre nicht zielführend."