Luftakrobatin Vanessa Sweekhorst: "Meine Hände sind die Sicherung"
AZ-Interview mit Vanessa Sweekhorst: Die Münchnerin (25) ist Luftakrobatin und auch Industrieklettererin.
AZ: Frau Sweekhorst, wie wird man eine Akrobatin, die sich waghalsig an Stoffbahnen entlanghangelt und meterweit fallenlässt?
VANESSA SWEEKHORST: Dafür gibt es Studiengänge und Ausbildungen. Ich war auf einer niederländischen Artisten-Schule in Tilburg bei Eindhoven, nach meinem Abitur 2015 am Edith-Stein-Gymnasium.
Wie nennt sich das?
Bachelor of Circus and Performing Arts. Der studierte Artist.
Wie muss ich mir so eine Ausbildung vorstellen?
Sie dauert vier Jahre. 80 Prozent Praxis, 20 Prozent Theorie. Eine Stunde Aufwärmen in der Früh, zwei Stunden Kraft und Beweglichkeit, Bodenturnen, Grundlagen, dann zwei Stunden Spezialisierung. Bei mir war das die Luftakrobatik mit sogenannten Strapaten, also Schlaufen an den Handgelenken und dem Vertikaltuch. Das sind Stoffbahnen. Nachmittags zwei mal zwei Stunden Tanz, Theater, Theorie oder Trampolin.
Strenges Programm. Man muss für den Beruf sicher früh anfangen. Seit wann sind Sie Artistin?
Ich meldete tatsächlich schon mit 14 mein Unternehmen an. Direkt nach dem Abi habe ich erst mal gearbeitet, für eine Agentur für Akrobatik. Ich trainierte im Leistungszentrum.

Das klingt alles, als ob Sie das genau durchgeplant hätten.
Der Zufall spielte schon eine Rolle. Mit 14 kam eine Berufsartistin auf mich zu und fragte, ob ich einen Auftritt für sie übernehmen könnte, weil sie zwei Buchungen an einem Tag hatte. Ich dachte mir, supercool! Das mache ich. So begann ich aufzutreten. Das Netzwerk wurde größer und größer. In meinen letzten Schuljahren habe ich schon voll gearbeitet und mich eigenständig finanziert.
Und obendrauf das Studium in den Niederlanden, verstehe.
Genau, eine fundierte Ausbildung. Das war mir wichtig.
Wollten Sie also schon immer Luftakrobatin werden?
Nein, eigentlich war mein Traumberuf Primaballerina. Ich kam mit drei Jahren auf eine Ballettschule, habe leidenschaftlich trainiert. Aber den Traum musste ich aufgeben.
Warum?
Beim Ballett schauen sie dir auf die Hände. Und bei mir war schon mit acht Jahren klar, dass ich mal recht groß werden würde, weil ich recht große Hände habe. Damals hatte ich mich auf einer Ballettakademie beworben. Ich bin heute fast 1,80 Meter groß. Da stichst du auf der Bühne hervor. Und das sieht nicht gut aus.
Sie schwenkten also um auf Akrobatik?
Ja, ich war sofort begeistert von dem Nervenkitzel in der Luft.
"Der Wanderzirkus wäre nichts für mich"
So wie Sie sich auf der Bühne bewegen, könnten Sie bestimmt auch beim Zirkus arbeiten.
Der Wanderzirkus wäre nichts für mich. Ich hatte aber auch schon Auftritte im Circus Roncalli, im vergangenen Jahr. Als Freiberuflerin gibt es da keine Grenzen. Auch deshalb liebe ich den Job. Es ist sogar für mich eher ungewöhnlich, dass ein Engagement so lange dauert, wie im Teatro. Ich stehe hier bis April unter Vertrag, was natürlich besonders schön ist, weil ich ja in München wohne.
Wo sind Sie noch aufgetreten?
Events, Messen, Werbung und Galaveranstaltungen aller Art, schon bei fast jedem DAX-Konzern. Oder bei der TV-Show "Das Supertalent". Insgesamt habe ich über 1.500 Shows gespielt. Längerfristig bin ich auch auf der MS Iona, dem größten Kreuzfahrtschiff Europas. Bei "Equila", einer Showproduktion mit Pferden von Apassionata im Norden Münchens, bin ich aufgetreten. War eine tolle Show.
Scheint Ihr Traumberuf zu sein.
Absolut.
Was sind die Schattenseiten?
Das kommt immer auf die Einstellung an. Ich bin viel unterwegs. Viele Nächte im Jahr alleine in Hotels. Damit kann nicht jeder umgehen, glaube ich. Aber für mich ist das kein Problem. Ich bin regelmäßig bei Freunden und meiner Familie. So gleicht sich das ein wenig aus.
Thema Einsamkeit?
Kann dazukommen. Aber es kommt auf den Blickwinkel an. Man kann es negativ sehen oder als Chance. Ich kann so oft hinter die Kulissen blicken und viele neue Städte sehen, neue Menschen kennenlernen. Ich sehe vieles positiv, schätze die Möglichkeiten sehr. Im Sommer war ich in Florenz, es war eine private und im Vorfeld geheime Veranstaltung, bei der Hochzeit eines brasilianischen Models. Und plötzlich steht da David Guetta neben einem auf der Bühne, der dort auflegt.
Wie war die Corona-Zeit für eine Frau, die eigentlich tagtäglich auf der Bühne steht?
Von heute auf morgen wurden alle Shows abgesagt. Ich hatte vor Corona schon eine Ausbildung als Industriekletterin. Da habe ich Zertifizierungen und Fortbildungen gemacht, für Absturzsicherung, persönliche Schutzausrüstung ...
"Höhenangst darf man nicht haben, aber Respekt vor der Höhe ist wichtig"
Warum?
Na ja, bei jeder Show bin ich selbst für mein Equipment und den Auf- und Abbau verantwortlich. Und ich arbeite in großer Höhe ohne Sicherheitsnetz.
Höhenangst?
Darf man nicht haben, aber Respekt vor der Höhe ist wichtig.
Interessant. Welche Jobs hatten Sie da schon?
Beim ersten Lockdown kam mein Ausbildungsbetrieb für Industriekletterei auf mich zu und fragte: Was machst du gerade beruflich? Und ich sagte: Grundsätzlich liegt meine Branche flach. Und dann war ich als Industriekletterin auf Baustellen, gebe inzwischen Schulungen für Schutzausrüstungen. Durch diese Kontakte bin ich übrigens auch als Stuntfrau gebucht worden, vor der Kamera, hinter der Kamera. Auch als Expertin für Personen-Flugsysteme auf Bühnen bin ich aktiv, wie zuletzt beim Helene-Fischer-Konzert.
Eine intensive Mischung. Haben Sie noch Zeit für Privatleben?
Tja, selbst und ständig heißt es ja bei Freiberuflern. Meine Leidenschaft und Freude an den Berufen ist groß. Die Jobs kommen wellenweise. Es gibt also auch Phasen, in denen ich weniger zu tun habe. Ich habe auch gelernt, mir freie Zeit für mein Privatleben bewusst zu setzen.
Keine Beschwerden aus dem Bekanntenkreis?
Ein sehr guter Freund meinte letztes Jahr, du brauchst dringend ein Hobby. Dann haben wir zusammen den Fallschirmsprungschein gemacht.
Und wieder das Thema Höhe. Welchen Job hatten Sie zuletzt als Industriekletterin?
Einer meiner Lieblingsaufträge war eine Bauwerksprüfung für eine Brücke im Südwesten Bayerns. Ein riesiger Brückenbogen. An den höchsten Punkten mehr als hundert Meter. Da bin ich hoch und habe mit einem Scanner die Pfeiler auf Schäden überprüft. Wir hatten schönes Wetter. Ein Geschenk!
"Ich muss mich minuziös vorbereiten und gut planen"
Sie lieben die Höhe, oder?
Es ist ein Freiheitsgefühl.
Sie genießen das.
Sehr.
Innehalten und sich umsehen für einige Sekunden?
Immer, wenn möglich.
Erzählen Sie mir auch von einem spektakulären Auftritt?
Ein Highlight, zuletzt für ein Event eines großen Automobilherstellers. Es war November, abends, zwei bis drei Grad. Ich hing an einem Heißluftballon, 40 Meter Höhe, an Stoffbändern. Mächtiges Bild. Den Moment habe ich gut abgespeichert.
Wie sind Sie denn am Heißluftballon hängend gesichert?
Mit meinen zwei Händen. Fällt rechtlich unter szenische Darstellung. Ausnahmekunst. Dafür bin ich ausgebildet.
Null Sicherung?!?
Schwer umsetzbar. Jede Sicherung würde mich behindern. Ich muss mich minuziös vorbereiten und gut planen. So kontrolliert man das Risiko.
Die Höhe verzeiht keine Fehler?
Genau.
Welcher Stoff ist das, an dem Sie bei den Shows hängen?
Nylon-Tricot. Gibt bisschen nach und hält mindestens zwölf Kilonewton, also etwa 1.200 Kilogramm. Wird auch für Strumpfhosen verwendet.
"Ich habe Kollegen, die schaffen es, bis sie 50 sind"
Mit welchem Lebenswandel geht Ihr Beruf einher? Kaum Alkohol?
Super selten. Anstandshalber stoße ich mal mit einem Glas an, bei Premieren. Mehr nicht.
Guter Schlaf?
Unbedingt. Und keine Zigaretten, damit ich den Job möglichst lange machen kann.
Wie sieht Ihre Ernährung aus?
Viele Proteine, viel Gemüse, große Vielfalt, viel Wasser. Wie bei den meisten Berufssportlern.
Wie lange macht man den Job so in der Form auf der Bühne?
Ich habe Kollegen, die schaffen es, bis sie 50 sind. Aber das ist schon lang. Manche hören auch mit 30 oder Anfang 30 auf.
Wie oft trainieren Sie?
Sechs Tage die Woche, drei bis vier Stunden am Tag. Oft buche ich mir Trainer. Die Vor- und Nachbereitung für die Shows kostet übrigens Extrazeit. Die Wochenarbeitszeit inklusive Show darf man am besten nie hochrechnen.