Lkw überrollt Kind in München: Dass es keine Abbiegeassistent-Pflicht gibt, ist ein Skandal

Wieder erfasst ein Lkw ein Fahrrad, wieder stirbt ein Mensch, wieder wäre der Unfall höchstwahrscheinlich vermeidbar gewesen: Dass finanzielle Interessen über Leben oder Sterben von Verkehrsteilnehmern entscheiden ist ebenso unverständlich wie verachtenswert.
Christoph Elzer |
X
Sie haben den Artikel der Merkliste hinzugefügt.
zur Merkliste
Merken
0  Kommentare
lädt ... nicht eingeloggt
Teilen  AZ bei Google News
Mercedes Benz hat längst einen funktionierenden Abbiegeassistenten. Doch das Verkehrsministerium redet sich aus der Verantwortung, weil die Technologie "noch nicht ausgereift genug" sei.
Daimler Mercedes Benz hat längst einen funktionierenden Abbiegeassistenten. Doch das Verkehrsministerium redet sich aus der Verantwortung, weil die Technologie "noch nicht ausgereift genug" sei.

Wieder erfasst ein Lkw ein Fahrrad, wieder stirbt ein Mensch, wieder wäre der Unfall höchstwahrscheinlich vermeidbar gewesen: Dass finanzielle Interessen über Leben oder Sterben von Verkehrsteilnehmern entscheiden, ist ebenso unverständlich wie verachtenswert. Ein Kommentar von AZ-Onlinevize Christoph Elzer.

München – Noch brutaler, noch grausamer kann die Gefahr durch rechtsabbiegende Lkw nicht illustriert werden, als es an diesem Montag wieder geschehen ist: An dem Tag, an dem ein Mahnmal für die bei einem solchen Unfall im August 2017 getötete Schauspielerin Silvia Andersen (Marienhof) enthüllt werden soll, ereignet sich wieder ein Rechtsabbiegeunfall, bei dem dieses Mal ein neunjähriges Mädchen stirbt.

Als wäre der Tod der Schülerin noch nicht schrecklich genug, kommt noch das Wissen hinzu, dass derartige Unfälle zu einem großen Teil vermeidbar wären – wenn man denn nur wollte. Doch wenn sich Sparpotential bietet, dann wird sogar ein Menschenleben zur Verhandlungsmasse. Denn technisch wäre eine Sensor-Nachrüstung, die vor Abbiege-Kollisionen mit Fußgängern oder Radfahrern warnt, problemlos realisierbar. Aber gratis gibt es so etwas natürlich nicht.

Besonders krass formuliert der Münchner Unfallforscher Wolfram Hell von der LMU dieses Dilemma: "Das System kostet einen Spediteur pro Lkw vielleicht 1.000 Euro. Ein toter Radfahrer kostet den Spediteur nichts. Denn da zahlt die Versicherung."

Tausende Sensoren in jedem Pkw - aber Lkw bleiben "blind"

Wir leben in einem Zeitalter, in dem vollständig selbstfahrende Autos im realen Straßenbetrieb erprobt werden und vermutlich binnen weniger Jahre Serienreife erlangen. In dem Pkw selbständig einparken und Notbremssysteme bei vielen Autos mittlerweile zur Grundausstattung gehören. Aber ausgerechnet bei den Abbiegeassistenten für Lkw scheint die Zeit stillgestanden zu haben.

Bereits im Jahr 2009 erhielt MAN, immerhin einer der weltweit größten Lkw-Hersteller, vom ADAC einen Gelben Engel in der Kategorie Innovation für seinen Abbiegeassistenten. "Das System hat die Vorentwicklung bereits verlassen und wurde in den vergangenen Monaten ausführlich im Straßenverkehr getestet. In den nächsten Jahren wird MAN den Abbiegeassistenten in seinen Serien-Lkws schrittweise einführen", verkündete der Hersteller damals stolz. Passiert ist seitdem nichts.

Anfang 2018 schickte die Fraktion der Linkspartei eine Anfrage an das Bundesverkehrsministerium, wie es denn aktuell um die Einführung von Abbiegeassistenten stehe. Die Antwort: Man halte diese Technologie für sinnvoll und gehe auch davon aus, dass sie in der Lage sei, die Zahl der Verkehrstoten und -verletzten deutlich zu senken. Aber die aktuellen Systeme seien technisch noch nicht ausgereift genug. Das verwundert schon ein wenig, da man die Technologie bei Daimler wiederum für ausgereift genug hält, um sie als optionale Zusatzausstattung anzubieten. Am besten sei ohnehin, so das Verkehrsministerium, wenn sich die EU der Problematik annehme.

Deutsche Politiker stellen sich nicht ihrer Verantwortung

Dieses Wegducken aus der Verantwortung ist unerträglich. Selbstverständlich braucht es eine EU-weite Pflicht zu solchen Systemen und nicht nur eine nationale Regelung. Doch Deutschland, die Autofahrernation Nummer eins, das politische Schwergewicht innerhalb der Europäischen Union, der selbsterklärte Zukunftsstandort, die Heimat von Daimler und MAN, sollte hier vorangehen und führen, statt sämtliche Zuständigkeit von sich zu weisen.

Unfallforscher Hell sagt fast schon resignierend: "Jeden Tag sterben durchschnittlich zehn Menschen [auf deutschen Straßen]. Das ist, als würde alle vier Wochen ein Jumbojet abstürzen. Wären 400 VIPs in einem Jumbojet gefährdet, dann wäre schnell eine Lösung da. Und wenn acht Leute an Vogelgrippe sterben, dann werden Millionen in die Impfforschung gepumpt. Aber Unfalltote gehören hier offenbar zum Alltag dazu."

Tatsächlich fügt sich das Zaudern beim Thema Abbiegeassistenten perfekt in das Bild, das das Verkehrsministerium stets abgibt: Egal ob es um den Dieselskandal oder das Verlagern von Transporten von der Straße auf die Schiene geht - das traditionell unter CSU-Führung stehende Ministerium scheut jeden Schritt, der Auto- oder Speditionsindustrie gegen sich aufbringen könnte.

Dieser Zustand ist ebenso grotesk wie unerträglich. Man will sich eigentlich nicht ausmalen, was die Eltern des getöteten neujährigen Mädchens den untätigen Politikern wohl zu sagen haben. Aber sie sollten es sich mal anhören.

Lädt
Anmelden oder registrieren

Zum Login
Zu meinen Themen hinzufügen

Hinzufügen
Sie haben bereits von 15 Themen gewählt

Bearbeiten
Sie verfolgen dieses Thema bereits

Entfernen
Um "Meine AZ" nutzen zu können, müssen Sie der Datenspeicherung zustimmen.

Zustimmen
 
0 Kommentare
Bitte beachten Sie, dass die Kommentarfunktion unserer Artikel nur 72 Stunden nach Veröffentlichung zur Verfügung steht.
Noch keine Kommentare vorhanden.
merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.