„Literarische Figuren schaffen ihre eigene Realität"

In diesem Jahr erschien „Der kleine Bruder“. Sven Regener hat damit seine Roman-Trilogie um den Herrn Lehmann abgeschlossen. Heute Abend liest er in der Muffathalle. Im Gespräch erzählt er über die Kunst des Schreibens und seine frühen Berlin-Erinnerungen.
Abendzeitung |
X
Sie haben den Artikel der Merkliste hinzugefügt.
zur Merkliste
Merken
0  Kommentare
lädt ... nicht eingeloggt
Teilen  AZ bei Google News
Sven Regener lächelt selten, ist aber ein Meister der melancholischen Komik. Aufgewachsen in Bremen übersiedelte der Musiker und mittlerweile Romanautor Anfang der 80er nach Berlin.
Charlotte Goltermann Sven Regener lächelt selten, ist aber ein Meister der melancholischen Komik. Aufgewachsen in Bremen übersiedelte der Musiker und mittlerweile Romanautor Anfang der 80er nach Berlin.

In diesem Jahr erschien „Der kleine Bruder“. Sven Regener hat damit seine Roman-Trilogie um den Herrn Lehmann abgeschlossen. Heute Abend liest er in der Muffathalle. Im Gespräch erzählt er über die Kunst des Schreibens und seine frühen Berlin-Erinnerungen.

Es ist kurz nach halb sieben. Um acht Uhr wird Sven Regener die Bühne der Zeche Bochum betreten. Wir erwischen ihn telefonisch in der Garderobe. Es gibt Künstler, die in dieser Situation nicht entspannen könnten. Aber Sven Regener ist in Plauderlaune. Mit „Der kleine Bruder“, dem letzten Teil der Trilogie um Herrn Lehmann, ist der Romanautor und Kopf der Band Element Of Crime momentan auf Lesereise.

AZ: Herr Regener, Sie bereiten sich gerade auf die Lesung vor?

SVEN REGENER: Ich habe gerade Soundcheck gemacht, sitz jetzt hier in der Garderobe rum und mach mir mal ne Flasche Bier auf, glaub ich.

Wie real ist die Figur des Frank Lehmann für Sie nach all den Jahren?

Das ist komisch, aber solche literarischen Figuren schaffen sich schon ihre eigene Realität. Er ist ein bisschen so etwas wie ein guter Freund.

Wie war das Gefühl, die letzte Zeile des dritten Teils zu schreiben?

Das war eigentlich ganz gut (lacht). Dadurch, dass ich von Anfang an wusste, dass, wenn es funktioniert, ich drei Bücher daraus machen würde, war sehr viel meiner Zeit schon im Voraus verplant. Im Grunde konnte ich mir schon 2001 ausrechnen, was ich 2007 machen würde. Das kann man, wenn man selbstständig ist, auch gut finden, aber soweit im Voraus mag ich es nicht so gerne.

Das Schreiben von drei zusammenhängenden Romanen verlangt bewundernswerte Konsequenz.

Naja... Ich hab mir für jedes Buch eine bestimmte Zeit erlaubt, die man ihm widmen kann. Natürlich auch, weil ich durch Element of Crime sehr beschäftigt bin. Aber es gibt mal ein Jahr, da macht die Band keine neuen Songs und man geht nicht exzessiv auf Tournee, dann kann man so einen Roman schreiben.

Der letzte Teil ist ja auch ein ganzes Eck kürzer geworden als „Neue Vahr Süd“.

Ich wusste bei „Neue Vahr Süd“ nicht, was auf mich zukommt. Aber jede Geschichte braucht ihr eigenes Format. „Neue Vahr Süd“ operiert gleichzeitig in zwei völlig unterschiedlichen Welten. Und man muss sich auf diese Welten schon einlassen, sonst versteht man das nicht. Ich musste auch die Zeit verlängern, die ich mir vorgenommen hatte. Am Ende brauchte ich anderthalb Jahre.

Wie bereitet man sich denn auf eine Lesung vor?

Das ist ein längerer Prozess. Ich habe relativ früh schon mit diesem Buch Lesungen gehabt. Insofern war ich in der Sache drin. Aber im Grunde macht man es, wie man auch Musik übt, um den Fluss und den Sound der Sache rauszukriegen.

Gerade Humor lebt vom Timing.

Das muss man auch im Gefühl haben. Es gibt da nicht nur eine richtige Form. Ich habe allerdings festgestellt, auch wenn ich die Texte später für ein Hörbuch eingelesen habe, dass die Sache einen bestimmten, unverwechselbaren Sound hat. Auch wenn man die Wörter nicht verstehen würde, würde man hören, dass es eine Herr-Lehmann-Geschichte ist.

Sie schreiben aber nicht bewusst auf einen Sound hin?

Eigentlich nicht. Die Stilmittel, zu denen man greift, die Art, wie man Sätze baut, die Art der Dialoge – ich glaube, dass all das unbewusst einen bestimmten Sound herstellt.

Berlin ist in Ihrem letzten Teil klein und überschaubar. Wie haben Sie selbst damals Ihre Ankunft in Berlin erlebt?

Etwas anders. Ich war damals Student in Hamburg, hatte eine Freundin in Berlin und bin wegen der Freundin nach Berlin gegangen. Ich bin viel gependelt und dann bin ich irgendwann ganz rübergezogen. Mir stand das Wasser nicht so bis zum Hals wie Frank. Der hat keine Wohnung, keine Arbeit, er hat auch bald kein Geld. Wenn er den Arsch nicht an die Wand kriegt, bekommt er richtige, echte Probleme. Deshalb auch die Suche nach dem Bruder.

Die Suche nach dem Bruder ist ja Stillstand im Chaos.

Anfang der 80er war eine sehr aufregende Zeit in Berlin. Wenn man jung war und in diese Kunst- und Musik-Szene reingeriet, das war aufregend. Da ist viel entstanden, was sehr lange Bestand hatte: Post-Punk, Avantgarde-Rock, No-Funk und Punk-Funk. In der Kunst die Nachwirkungen der Jungen Wilden, Performance-Kunst, Installationen, jede Menge Freak-Zeug – sehr wild. Das war ja damals auch der Ruf Berlins.

War Berlin vor dem Mauerfall ein Biotop oder eine Enklave der Selbstbespiegelung?

Biotop ist eine unglückliche Metapher, weil ein Biotop ein in sich geschlossenes Ökosystem ist. West-Berlin war ein von außen bewirtschaftetes, unterstütztes und eigentlich nicht lebensfähiges System. Das war eigentlich eine sterbende Stadt. Alles, was irgendwie etwas werden wollte, ging da weg. Eigentlich war es eine sehr depressive und im Niedergang begriffene Stadt. Aber es war eine Insel. Es war ummauert und es lagen zwei Grenzen zwischen uns und dem Rest der Bundesrepublik. Das psychologische Empfinden – ich bin ganz weit weg von zuhause und eigentlich im Ausland – hat bewirkt, dass sich Leute frei und enthemmt fühlten. Wenn man in den 80er Jahren schwul war und aus Neuburg an der Donau kam, dann ging man nach Berlin. Man wollte nicht homosexuell in Neuburg an der Donau sein. Das nervt.

Die Kunstszene hat sich in Berlin aus sich selber heraus immer neu generiert?

Das kann man so nicht sagen. Es wurden ständig neue Leute zugeführt. Berlin machte es jungen Leuten, die meist kein Geld haben, sehr einfach, da zu leben.

Frank erlebt doch eine Welt der Pseudoaktionen?

Pseudo würde ich gar nicht sagen. Wenn die Leute etwas machen, ist das eine Aktion. Ich würde das nicht werten wollen. Ich kann es eigentlich nur beschreiben. Ich hab auch Debatten mit Leuten, die sagen „Pseudokünstler“. Wer weiß denn, ob nicht der neue Joseph Beuys unter diesen Typen ist. Hasen aus Ton kneten oder Fettecken herstellen – da kann man doch nicht sagen, dass da nur einer dazu berufen ist. Jeder kann Künstler sein, das ist doch der Punk-Ansatz gewesen. Und da sind sehr viele berühmte Leute daraus hervorgegangen.

1982 haben sie bei Zatopek gespielt.

Zatopek war eigentlich eine normale, in der musikalischen Arbeit sehr konventionelle Band. Richard Pappik, der Drummer von Element Of Crime hat in Bands wie Varieté Kontrast und Sprung aus den Wolken gespielt. Das war so richtiger Avantgarde-Kram, das war viel absurder, wie da Musik gemacht wurde, viel seltsamer und rätselhafter. Ich kam als Trompeter in die Stadt und alle wollte Blechbläser haben. Ich traf jemanden, der erfuhr, dass ich Trompete spielte. Eine Woche später war ich in der Band und im Plattenstudio. Anfang ’83 gingen wir auf Tournee.

Den ersten Roman in ein Drehbuch umzusetzen, war das ein harter Schnitt?

Das einzige Problem war, dass sie es immer weiter gekürzt haben wollten. Eigentlich ist ein Buch wie „Herr Lehmann“ sehr leicht zu verfilmen. Das gilt auch für „Der kleine Bruder“. Für Leute wie Leander Haußmann sind Drehbücher nur so eine grobe Richtlinie. Da wird nicht sehr protestantisch mit der Schrift umgegangen, eher katholisch – sehr großzügig. Wenn man bereit ist, das jemandem zu geben, dann geht’s auch. Aber es gab auch Zumutungen von der Produzentenseite, wo gefragt wurde, ob man die Liebesgeschichte nicht gut ausgehen lassen kann. Da muss ein klares Nein kommen. Das ist ja Blödsinn.

Beim „Kleinen Bruder“ können Sie sich die Verfilmung vorstellen?

Bei „Neue Vahr Süd“ auch. Aber da sind alle Verhandlungen gescheitert, weil es auf einen Monumentalfilm hinauslaufen würde. Und ich wäre nicht bereit gewesen, Abstriche zu machen.

Gibt es für den „Kleinen Bruder“ schon konkrete Ideen?

Das ist verhandelt. Wir sind schon sehr viel weitergekommen. Es ist an dieselbe Firma verkauft, die auch „Herr Lehmann“ verfilmt hat.

Verändert das Bild des Schauspielers von „Herr Lehmann“ das Bild, das man im Kopf hat?

Hatte ich gedacht, aber bei mir nicht. Ich habe beim Schreiben des neuen Buches nicht an Christian Ulmen gedacht.

Christian Jooß

Muffathalle, Zellstraße 4, 21 Uhr, Eintritt: 15 Euro, zzgl. Geb., www.muffathalle.de

Die Lehmann-Trilogie

2001 erschien „Herr Lehmann“, der erste, aber chronologisch gesehen letzte Teil der Trilogie um Frank Lehmann. Mittlerweile auf drei Romane angewachsen, sind Sven Regeners Romane ein Zeitporträt einer westdeutschen Jugend in den 80er Jahren.

Die Geschichte startet mit „Neue Vahr Süd“ (Goldmann, 631 Seiten). Frank hat ein Problem: Er hat den Termin für seine Wehrdienstverweigerung verpasst und wird eingezogen. Der umfangreichste Teil des Trilogie spielt in zwei Welten. Den Versuchen der jugendlichen Selbstfindung im Privatleben steht die absurde Welt des Militärs und seiner Befehle gegenüber. Erst ein Selbstmordversuch befreit Frank aus dem System.

Im eben erschienenen Teil „Der kleine Bruder“ (Eichborn, 281 Seiten) treffen wir Frank auf der Transitstrecke nach Berlin wieder. Eigentlich ist er auf der Suche nach seinem großen Bruder. Der aber ist verschwunden. Frank stößt in die Wunderwelt einer geteilten Stadt vor, erlebt eine vibrierende Kunst-Szene zwischen großen Hoffnungen und kleinen Abstürzen.

„Herr Lehmann“ (Goldmann 284 Seiten) beschließt den Zyklus. Frank ist mittlerweile in Kreuzberg gelandet und steuert auf den 30. Geburtstag zu. Er laviert durch private Krisen und sieht den Freundeskreis zerbröckeln. Und am Schluss fällt auch noch die Mauer.

Lädt
Anmelden oder registrieren

Zum Login
Zu meinen Themen hinzufügen

Hinzufügen
Sie haben bereits von 15 Themen gewählt

Bearbeiten
Sie verfolgen dieses Thema bereits

Entfernen
Um "Meine AZ" nutzen zu können, müssen Sie der Datenspeicherung zustimmen.

Zustimmen
 
0 Kommentare
Bitte beachten Sie, dass die Kommentarfunktion unserer Artikel nur 72 Stunden nach Veröffentlichung zur Verfügung steht.
Noch keine Kommentare vorhanden.
merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.