Interview

Linken-Kandidatin Nicole Gohlke:"Ich bin fassungslos"

Die Münchnerin Nicole Gohlke ist Spitzenkandidatin der bayerischen Linken. Im AZ-Interview ärgert sie sich über Versäumnisse in der Schulpolitik und erklärt, wie ihre Partei Superreiche zur Kasse bitten möchte.
von  Natalie Kettinger
Seit 2009 im Bundestag: die Münchnerin Nicole Gohlke.
Seit 2009 im Bundestag: die Münchnerin Nicole Gohlke. © Olaf Krostiz

AZ: Frau Gohlke, die Linke liegt in den Umfragen bei sechs Prozent. Haben Sie manchmal Angst, dass es Ihre Partei am 26. September nicht mehr in den Bundestag schafft?
NICOLE GOHLKE: Eigentlich nicht. Ich glaube, dass wir viele Stammwählerinnen und -wähler haben, die wissen, dass wir gebraucht werden - als wichtiges soziales Korrektiv in dieser Republik. Und klar ist auch: Krisen wie jetzt die Flut haben immer den Effekt, dass die Regierenden profitieren.

Die Krise der Linken währt aber schon ein bisschen länger. Was ist schief gelaufen?
Ein Teil unserer Schwäche ist selbstgemacht, weil wir Monate mit internem Streit verbracht haben. Der ist zwar politisch notwendig, weil die gesellschaftlichen Herausforderungen groß sind, man sich über Strategien und unterschiedliche Meinungen austauschen muss. Die Frage ist allerdings, wie man das tut. Da haben wir nicht immer geglänzt und dabei ist ein bisschen untergegangen, warum es uns braucht. Aber das haben wir korrigiert.

"Die SPD hat das Vertrauen verspielt"

Warum braucht es die Linke?
Weil sie die einzige Partei ist, die soziale Fragen so richtig auf dem Schirm hat. Aus den Wahlprogrammen von Union und FDP weiß man, dass sie Steuererleichterungen für die reiche Klientel und Konzerne planen. Die SPD hat das Vertrauen verspielt, eine Umverteilung anzupacken. Sie hat das zwar über Jahrzehnte immer angekündigt - aber nichts getan. Und von den Grünen ist bekannt, dass sie die Sache der Beschäftigten oder des ärmeren Teils der Gesellschaft nicht dominant mitvertreten.

"Beim Wohnen brauchen wir Eingriffe ins Eigentumsrecht"

Wo setzen Sie Ihre Schwerpunkte?
Die große Frage für uns ist, wer zahlt für die Kosten der Corona- und Wirtschaftskrise, der Flutkatastrophe und des Klimawandels? Da wird darüber geredet, die Menschen erst mit 68 oder 70 in Rente gehen zu lassen. Es wird über Sonntagsarbeit diskutiert, über weniger Urlaubstage, Nullrunden bei Löhnen, Renten oder Sozialleistungen. Das ist der falsche Weg. Die Politik der letzten Jahre mit sinkenden Löhnen und einer sozialen Spreizung der Gesellschaft, der Ökonomisierung vieler Lebensbereiche, Privatisierung, Arbeitsverdichtung - zum Beispiel im Gesundheitsbereich - hat doch dazu geführt, dass wir als Gesellschaft schlecht gegen Krisen wie die aktuellen gewappnet sind.

Um gegenzusteuern, will die Linke die Reichen zur Kasse bitten. Das dürfte einige Münchner nervös machen.
Deutschland ist Spitzenreiter im europäischen Raum, was die Vermögens-Ungleichheit angeht. Das wollen wir verändern. Deshalb schlagen wir eine Vermögensabgabe zur Bewältigung der Krisenlast vor: Die reichsten 0,7 Prozent der Gesellschaft sollen über einen Zeitraum von 20 Jahren mit einer zusätzlichen steuerlichen Abgabe belastet werden, vergleichbar mit der, die es nach dem Krieg zur Bewältigung der Verheerungen gab. Das ist der eine große Baustein, mit dem man das Gesundheitssystem auf Vordermann bringen oder einen Transformationsfonds auflegen könnte, mit dem in der Industrie Klimaneutralität und neue Arbeitsplätze geschaffen werden.

Die Linke plädiert für ein gerechteres Steuersystem

Und was wäre der zweite Baustein?
Der Einstieg in ein gerechteres Steuersystem. Durch die aktuelle Steuergesetzgebung wird die Spaltung der Gesellschaft doch nur verstärkt. Deshalb wollen wir die kleinen Einkommen von bis zu 70 000 Euro pro Person und Jahr entlasten. Ab diesem Betrag fordern wir einen moderaten Anstieg - und eine Vermögenssteuer für die Superreichen. Für diejenigen, die sich nun sorgen: Die erste Million soll steuerfrei sein - genau wie selbstgenutztes Eigentum.

In Deutschland arbeiten aktuell so viele Menschen im Niedriglohn-Sektor wie noch nie - eigentlich Ihr klassisches Klientel, das solchen Vorschlägen sicher zustimmen würde. Warum erreichen Sie viele dieser Menschen nicht? Hat Sahra Wagenknecht doch recht, wenn sie von akademisierten "Lifestyle-Linken" spricht, die sich von ihren Wählern entfernt haben?

Wir erleben grundsätzlich eine starke Politik-Verdrossenheit und die trifft alle Parteien. Hinzu kommt eine große Volatilität. Es ist doch Wahnsinn, wenn die Grünen innerhalb von zwei Wochen zehn Prozentpunkte verlieren! Außerdem glaube ich, dass viele Menschen, die abgehängt sind, am Rande der Armut oder schon armutsverfestigt leben, unglaublich frustriert sind. Sie haben nicht mehr das Gefühl, noch etwas an ihrer Situation ändern zu können. Insofern hat Sahra Wagenknecht recht, wenn sie sagt, dass viele Menschen sich nicht mehr richtig vertreten fühlen.

Was lässt sich dagegen tun?
Die Aufgabe linker Politik ist es, aufzuzeigen, wie sich die Dinge ändern lassen, zum Beispiel durch einen erfolgreichen Arbeitskampf oder eigenes zivilgesellschaftliches Engagement. Was es braucht, ist Selbstbewusstsein und das Gefühl, etwas ändern zu können. Deshalb versuchen wir in München gerade, mit unter Druck geratenen Mieterinnen und Mietern ins Gespräch zu kommen, die Leute zu vernetzen und mit ihnen den Widerstand zu organisieren. Und wir haben uns in Bayern den Pflegenotstand mit unserem Volksbegehren auf die Fahnen geschrieben und viele Pflegekräfte für uns gewonnen. Deshalb tut Sahra Wagenknecht der Linken unrecht, wenn sie die Partei für die Politikverdrossenheit in Mithaftung nimmt. Außerdem ist die Gegenüberstellung von verschiedenen Milieus teilweise falsch. Wir haben studierte Mitglieder, die trotzdem fürchten, ihre Miete nicht mehr zahlen zu können oder im Alter arm zu sein.

"Wir brauchen Eingriffe ins Eigentumsrecht"

Wie wollen Sie den Menschen diese Ängste nehmen?
Wir fordern zum Beispiel, dass das Grundgehalt aller Pflegekräfte um 500 Euro pro Monat aufgestockt wird. Außerdem brauchen wir beim Thema Wohnen Eingriffe ins Eigentumsrecht.

Sie sprechen von Enteignungen?
Auch ein kommunales Vorkaufsrecht ist ein Eingriff ins Eigentumsrecht, genau wie ein Umwandlungsverbot von Miet- in Eigentumswohnungen. All das muss schärfer werden, weil ein großer Teil der Vermögens-Ungleichheit in Deutschland an der ungleichen Verteilung von Immobilien liegt. Das Problem sind dabei nicht die kleinen Immobilieneigentümer, die versuchen, mit der Miete ihre Rente zu finanzieren. Es sind die großen Konzerne, die mit Immobilien, Grund und Boden oder Leerstand spekulieren. Deshalb haben wir uns dem Volksbegehren "Deutsche Wohnen und Co. enteignen" in Berlin angeschlossen, ja. Wohnen sollte soweit es geht demokratisch in kommunalem oder genossenschaftlichem Eigentum verwaltet werden.

Sie haben unlängst bei der Bundesregierung die Mietenentwicklung der letzten zehn Jahre in Bayern abgefragt. Was ist herausgekommen?
Das war echt heftig: Die Bodenpreise und auch die Mieten sind außerhalb Münchens zum Teil noch viel krasser gestiegen als in der Stadt. In Regensburg etwa gab es bei den Bodenpreisen eine Steigerung von rund 500 Prozent - völlig verrückt. Das zeigt, dass die Problematik der Metropol-Regionen zeitversetzt auch die des ländlichen Raumes wird. Weil das nicht sein darf, machen wir uns für einen bundesweiten Mietendeckel stark.

Skepsis über Bündnis Schwarz-Grün in Hessen

Im Moment scheint ein grün-rot-rotes Regierungsbündnis auf Bundesebene zwar weit entfernt. Dennoch: Gehören Sie eher zu den Linken-Politikern, die regieren möchten, oder zu denen, die sich als Opposition verstehen?
Es ist doch klar, dass wir zugreifen, wenn wir die Möglichkeit zu einem echten Politikwechsel haben. Da bin ich mir bei Schwarz-Grün in Hessen zum Beispiel nicht so sicher, wo die Grünen zustimmen, dass die NSU-Akten unter Verschluss bleiben, der Flughafen ausgebaut und der Hambacher Forst gerodet wird. Wir haben immer gesagt: Wir können über die Schrittlänge diskutieren und darüber, wie schnell etwas gehen kann - aber die Richtung muss stimmen.

Außenpolitisch fordert die Linke unter anderem ein Ende von Auslandseinsätzen und der Nato. Gilt das hier auch?
Die außenpolitische Entwicklung gibt uns doch recht. Nach 20 Jahren in Afghanistan kann sich keiner hinstellen und behaupten, das sei ein erfolgreicher Einsatz gewesen. Macht auch keiner. Dass die Nato ein Anker für Stabilität und Demokratie ist, stimmt ebenfalls nicht - da gibt es Bündnispartner, hinter die man viele Fragezeichen setzen muss. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, dass es eine Stimme gibt, die fragt, wie eine Sicherheitsstruktur aussehen kann, die nicht nur aus Abschreckung und Wettrüsten besteht. Es geht uns darum, den Einstieg in eine Abrüstungsspirale zu finden, um Deeskalation.

Zurück ins Inland: Sie sind Bildungspolitikerin. Mit welchen Gefühlen schauen Sie auf das nächste Schuljahr?
Ich bin fassungslos, dass wieder kostbare Sommermonate verstreichen. Wir müssen uns doch jetzt darum kümmern, dass erneute Schulschließungen möglichst verhindert werden - mit massenhaft Luftfilteranlagen, der Anmietung von Räumlichkeiten. Und was immer vergessen wurde: Für die Familien, für die Corona zu einer sozialen und Bildungskrise wurde, wäre es so wichtig, dass wir Sozialarbeiterinnen und -arbeiter haben, die da helfen, wo Kinder keine Geräte haben oder die Eltern sie nicht unterstützen können. Ich bin keine Virologin, aber wenn es stimmt, dass wir mit immer neuen Mutationen rechnen müssen, lässt das für mich nur zwei Schlüsse zu: Wir müssen jetzt vorsorgen, um eine weitere soziale Krise zu verhindern - und es müssen endlich die Impfstoff-Patente freigegeben werden.

"Es gibt wohl auch in Karlsruhe eine Art Corona-Verzug"

Das Gegenargument lautet: Patente ohne Know-how und Produktionskapazitäten helfen niemandem.
Das stimmt. Aber dieses Argument hört man seit eineinhalb Jahren. In dieser Zeit hätte man doch Produktionskapazitäten hochfahren können. Wenn die Bundesregierung ihre Milliardenhilfen an die Pharma-Industrie von Anfang an daran gekoppelt hätte, dass Lizenzen geteilt werden und nach Produktionskapazitäten gesucht wird, hätten wir natürlich mehr schaffen können.

Letzte Frage: Der Landtag hat gerade die Novelle des Polizei-Aufgabengesetzes beschlossen. Die Linke will nun auch gegen diese Version klagen. Wie ist der Stand bei Klage Nummer eins, die auf Bundesebene beim Verfassungsgericht eingereicht wurde?
Wir sind relativ zuversichtlich, dass nachgebessert werden muss - gerade was die unbestimmten Rechtsbegriffe wie "drohende Gefahr" sowie die Vermischung von polizeilichen und geheimdienstlichen Aufgaben angeht. Aber in diesem Jahr ist nicht mehr mit einer Entscheidung zu rechnen. Es gibt wohl auch in Karlsruhe eine Art Corona-Verzug.

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