Lieferdienst "Gorillas" in München: Der Inside-Report
München - Uns wurde gesagt, die Verkehrsregeln seien wichtiger als Schnelligkeit, und deswegen hält Georg auch brav sein Fahrrad an, als er noch einmal den Weg nachschauen muss. Er pfriemelt sein Smartphone aus der Hosentasche und gibt den Entsperr-Code ein. Ein Klick auf Google-Maps, ein kurzer Blick auf die Karte, schon könnte er weiterfahren.
Aber jetzt ist die Ampel rot. Verkehrsregeln oder Schnelligkeit, keine leichte Entscheidung. Georg entschließt sich, zu warten. Es ist ja ein freiwilliges Probefahren, so wurde uns das in der Gorillas-Filiale zumindest gesagt: Wir sollten einfach mal austesten, wie es sich anfühlt, ein "Rider" zu sein. Eine Minute vergeht, die Ampel bleibt rot.
Georg findet's "richtig nervig"
Zehn Minuten hat er, um von der Gorillas-Filiale in der Lothstraße in die Arcisstraße zu gelangen, acht Minuten dauert der Weg laut Google Maps, aber bezieht Google Maps rote Ampeln in seine Berechnungen mit ein?
In München gibt es immer wieder Unfälle mit den Radlkurieren
Zehn Minuten: So lautet das Versprechen von "Gorillas". Zehn Minuten, dann ist die Bestellung da. Mit diesem Versprechen hat der Online-Supermarkt eine Menge Geld von Investoren eingesammelt. So viel Geld, dass Gorillas bereits zehn Monate nach seiner Gründung den "Unicorn"-Status erreicht hat, eine Marktbewertung von mehr als einer Milliarde Dollar vor dem Börsengang.

Das war im März. Zu diesem Zeitpunkt hingen in München bereits überall Plakate des Unternehmens. "Endlich auch in München: Einkaufen bis 23 Uhr!" stand darauf - oder dutzendmal "Ich will weniger bei Gorillas bestellen". Darunter immer der Slogan des Konzerns: "Faster than you": "Schneller als du."
Was wird vom Rider verlangt?
Zehn Minuten hat also ein Gorillas-Fahrer, um die Bestellung auszuliefern. Und zehn Minuten haben deswegen auch Georg und ich, die wir heute zum Bewerbungsgespräch bei Gorillas erschienen sind. Ich möchte herausfinden, was Gorillas so verlangt von seinen Ridern. Georg möchte Rider werden.
Fristlose Kündigung wegen Zuspätkommens
Vor Kurzem hat es Gorillas Berlin deutschlandweit in die Schlagzeilen geschafft, weil die dortigen Rider in einen wilden Streik getreten sind. Der Auslöser war das Schicksal eines Kollegen namens Santiago. Santiago war zu spät zur Arbeit gekommen, einmalig zu spät zur Arbeit gekommen, und daraufhin fristlos entlassen worden.
Das war möglich, weil die Probezeit bei Gorillas ein halbes Jahr lang geht. Als seine Kollegen von der Entlassung Santiagos hörten, gingen sie auf die Barrikaden. Sie blockierten Warenlager, riefen den wilden Streik aus und forderten die Rücknahme der Entlassung und eine Verkürzung der Probezeit.

Um das Fahrrad muss sich der Fahrer selbst kümmern
Zum Bewerbungsgespräch habe ich mein Fahrrad mitgebracht, das ist vorgeschrieben. "Wenn Sie keines haben, leihen Sie sich eins", stand in der E-Mail, mit der mich Gorillas zur Vorstellung eingeladen hat.
Außer mir sind sieben weitere zukünftige Rider erschienen, alles Männer zwischen 18 und Mitte 30. Der Recruiter, nennen wir ihn John, hat blonde Haare und das Auftreten eines Fitness-Coaches, er geleitet uns in einen kleinen Raum mit großem Bildschirm und hält einen Vortrag über die Erwartungen des Konzerns an seine Mitarbeiter: Sie müssen eine Versicherung haben, ein Smartphone und ausreichend Internetvolumen.
Helmpflicht bei der Arbeit
Gorillas zahlt seinen Ridern 15 Euro im Monat für Handyvertrag und -versicherung, es empfiehlt sich ein günstiger Vertrag. Sie müssen einen Helm tragen ("Wenn ich einen Rider zweimal ohne Helm antreffe, ist er raus"). Und: Sie müssen pünktlich sein.
Seit der Entlassung von Santiago hat es bei Gorillas in Berlin immer wieder Streiks gegeben, zuletzt vor ein paar Tagen. Weil die Gehälter der Kuriere zu spät ausbezahlt wurden, die Arbeitskleidung für Dauerregen unbrauchbar war - und weil es immer wieder zu Unfällen kommt.
"Gorillas Workers Collective" ersetzt Gewerkschaft
Die Streiks finden unabhängig von den großen Gewerkschaften statt. Die Rider haben sich im "Gorillas Workers Collective" selbst organisiert, das inzwischen sogar eine eigene Streikkasse hat. Sie fordern unter anderem die vollständige Ausbezahlung aller Löhne, gleichen Lohn für gleiche Arbeit und eine bessere Arbeitsausrüstung. Bislang hat Gorillas keine der Forderungen vollständig erfüllt.
Recruiter John sagt, in der letzten Woche habe es in München 17 Unfälle von Ridern gegeben, das müsse weniger werden, "haltet euch an die Verkehrsregeln".
Die Versuchung ist groß, Verkehrsregeln nicht einzuhalten
Er reicht einen Bogen Papier mit QR-Codes durch die Bewerberreihen. Als wir sie scannen, öffnet sich ein Standort bei Google Maps, jeder bekommt einen anderen. Wir sollen, sagt John, dorthin fahren und die Hausnummer fotografieren. Die sollen wir dann in eine gemeinsame Telegram-Gruppe stellen. Drei, zwei, eins, los.
Wir schwingen uns auf unsere Fahrräder und radeln los, Georg und ich nebeneinander. Er sei gerade mit der Schule fertig geworden, sagt Georg, und suche einen Studentenjob. Von den Streiks in Berlin hat er nichts mitbekommen. Georg hält sich an die Verkehrsregeln, deshalb haben wir Zeit zu quatschen, die Münchner Innenstadt ist voller roter Ampeln. Irgendwann muss ich abdrehen. Ich bin spät dran. Die Versuchung, mit dem Smartphone (und damit der Karte) in der Hand zu fahren, ist groß. Verkehrsregeln oder Schnelligkeit?
Viele ihrer Arbeitsfahrräder, schreibt das "Gorillas Workers Collective" in einer Stellungnahme, hätten keinen Telefonhalter; die meisten seien nicht gefedert und in einem "Zustand der Vernachlässigung": "Allein in der letzten Woche gab es im Warenhaus Bergmannkiez drei Unfälle, die im Krankenhaus endeten."
"Telefon-Halterungen sind hier nämlich Luxus"
Anruf bei Jakob, Rider aus Berlin und Mitglied im "Gorillas Workers Collective": Haben die vielen Unfälle etwas mit den fehlenden Telefon-Halterungen zu tun? "Manche bestimmt", sagt Jakob. "Telefon-Halterungen sind hier nämlich Luxus." In seinem Warenhaus hätten nur fünf oder sechs der etwa 60 E-Bikes Telefon-Halterungen. "Aber ein größeres Problem sind die E-Bikes selbst", erklärt Jakob. "Viele der E-Bikes haben nur eine Bremse. Und die geht schnell mal kaputt." Dazu käme das schwere Gewicht auf dem Rücken der Fahrer. "Das macht es schwer zu reagieren, wenn etwas passiert."
In Reaktion auf die Proteste hat das Gorillas-Management vor Kurzem angekündigt, fortan eine Waage in den Warenhäusern zur Verfügung zu stellen und Lieferungen, die schwerer sind als zehn Kilogramm, auf zwei Rider aufzuteilen. Auf dem Rücken tragen sollen die Rider die Rucksäcke nach dem Willen des Konzerns aber weiterhin.
Enormer Druck durch Lieferzeit-Statistiken
Als ich bei der richtigen Hausnummer ankomme, sind zehn Minuten bereits um. Nur vier von acht Ridern haben es in der vorgegebenen Zeit geschafft. "Wenn man es nicht schafft, in zehn Minuten zu liefern, kann das bei manchen Managern wirklich Probleme bereiten", sagt Jakob vom Gorillas Workers Collective: "Unsere Vorgesetzten führen nämlich eine Liste mit Statistiken über unsere Lieferzeit. Und ob es Baustellen gab auf der Route oder viele rote Ampeln - das ist für diese Statistik ganz egal. Das baut einen enormen Druck auf."
Fehlende Handyhalterungen, beschädigte Fahrräder, schwere Rucksäcke - und immer der Druck, in zehn Minuten am Ziel zu sein. Ich beginne zu verstehen, woher die vielen Unfälle kommen.
Zahlreiche Unfälle in einer Woche
Ich schreibe Gorillas eine Mail und frage, ob es stimmt, dass es in München zuletzt 17 Unfälle in einer Woche gegeben habe. "Wie in jedem anderen Unternehmen auch, kann es bedauerlicherweise zu Unfällen kommen", schreibt der Konzern.
"Wir geben allen Mitarbeitern die Zeit, die sie brauchen, um eventuelle Folgen des Unfalls auszukurieren, bei voller Lohnfortzahlung und entsprechender Unfallversicherung. Der Beruf als Lieferant ist mit körperlicher Arbeit und der Teilnahme am Straßenverkehr verbunden, Unfälle lassen sich da leider nicht vollkommen ausschließen." In München hat es bislang keine Streiks bei Gorillas gegeben. Ob das so bleibt?
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