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Lieferdienst "Gorillas" in München: Der Inside-Report

Der Online-Supermarkt "Gorillas" verspricht Lieferungen in weniger als zehn Minuten - bundesweit steht das Unternehmen wegen der Arbeitsbedingungen in der Kritik. Die AZ-Reporterin hat sich in München als Fahrerin versucht.
Laura Meschede |
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Eine sogenannte Riderin in der Hohenzollernstraße. Innerhalb von zehn Minuten muss sie die Bestellung abliefern. Das ist das Versprechen von Gorillas.
Eine sogenannte Riderin in der Hohenzollernstraße. Innerhalb von zehn Minuten muss sie die Bestellung abliefern. Das ist das Versprechen von Gorillas. © Daniel von Loeper

München - Uns wurde gesagt, die Verkehrsregeln seien wichtiger als Schnelligkeit, und deswegen hält Georg auch brav sein Fahrrad an, als er noch einmal den Weg nachschauen muss. Er pfriemelt sein Smartphone aus der Hosentasche und gibt den Entsperr-Code ein. Ein Klick auf Google-Maps, ein kurzer Blick auf die Karte, schon könnte er weiterfahren.

Aber jetzt ist die Ampel rot. Verkehrsregeln oder Schnelligkeit, keine leichte Entscheidung. Georg entschließt sich, zu warten. Es ist ja ein freiwilliges Probefahren, so wurde uns das in der Gorillas-Filiale zumindest gesagt: Wir sollten einfach mal austesten, wie es sich anfühlt, ein "Rider" zu sein. Eine Minute vergeht, die Ampel bleibt rot.

Georg findet's "richtig nervig"

Zehn Minuten hat er, um von der Gorillas-Filiale in der Lothstraße in die Arcisstraße zu gelangen, acht Minuten dauert der Weg laut Google Maps, aber bezieht Google Maps rote Ampeln in seine Berechnungen mit ein?

In München gibt es immer wieder Unfälle mit den Radlkurieren

Zehn Minuten: So lautet das Versprechen von "Gorillas". Zehn Minuten, dann ist die Bestellung da. Mit diesem Versprechen hat der Online-Supermarkt eine Menge Geld von Investoren eingesammelt. So viel Geld, dass Gorillas bereits zehn Monate nach seiner Gründung den "Unicorn"-Status erreicht hat, eine Marktbewertung von mehr als einer Milliarde Dollar vor dem Börsengang.

Das Unternehmen ist mit Werbung sehr präsent.
Das Unternehmen ist mit Werbung sehr präsent. © imago images/Michael Gstettenbauer

Das war im März. Zu diesem Zeitpunkt hingen in München bereits überall Plakate des Unternehmens. "Endlich auch in München: Einkaufen bis 23 Uhr!" stand darauf - oder dutzendmal "Ich will weniger bei Gorillas bestellen". Darunter immer der Slogan des Konzerns: "Faster than you": "Schneller als du."

Was wird vom Rider verlangt?

Zehn Minuten hat also ein Gorillas-Fahrer, um die Bestellung auszuliefern. Und zehn Minuten haben deswegen auch Georg und ich, die wir heute zum Bewerbungsgespräch bei Gorillas erschienen sind. Ich möchte herausfinden, was Gorillas so verlangt von seinen Ridern. Georg möchte Rider werden.

Fristlose Kündigung wegen Zuspätkommens

Vor Kurzem hat es Gorillas Berlin deutschlandweit in die Schlagzeilen geschafft, weil die dortigen Rider in einen wilden Streik getreten sind. Der Auslöser war das Schicksal eines Kollegen namens Santiago. Santiago war zu spät zur Arbeit gekommen, einmalig zu spät zur Arbeit gekommen, und daraufhin fristlos entlassen worden.

Das war möglich, weil die Probezeit bei Gorillas ein halbes Jahr lang geht. Als seine Kollegen von der Entlassung Santiagos hörten, gingen sie auf die Barrikaden. Sie blockierten Warenlager, riefen den wilden Streik aus und forderten die Rücknahme der Entlassung und eine Verkürzung der Probezeit.

In der Bundeshauptstadt haben Fahrer bereits für bessere Arbeitsbedingungen gestreikt.
In der Bundeshauptstadt haben Fahrer bereits für bessere Arbeitsbedingungen gestreikt. © Christophe Gateau/dpa

Um das Fahrrad muss sich der Fahrer selbst kümmern

Zum Bewerbungsgespräch habe ich mein Fahrrad mitgebracht, das ist vorgeschrieben. "Wenn Sie keines haben, leihen Sie sich eins", stand in der E-Mail, mit der mich Gorillas zur Vorstellung eingeladen hat.

Außer mir sind sieben weitere zukünftige Rider erschienen, alles Männer zwischen 18 und Mitte 30. Der Recruiter, nennen wir ihn John, hat blonde Haare und das Auftreten eines Fitness-Coaches, er geleitet uns in einen kleinen Raum mit großem Bildschirm und hält einen Vortrag über die Erwartungen des Konzerns an seine Mitarbeiter: Sie müssen eine Versicherung haben, ein Smartphone und ausreichend Internetvolumen.

Helmpflicht bei der Arbeit

Gorillas zahlt seinen Ridern 15 Euro im Monat für Handyvertrag und -versicherung, es empfiehlt sich ein günstiger Vertrag. Sie müssen einen Helm tragen ("Wenn ich einen Rider zweimal ohne Helm antreffe, ist er raus"). Und: Sie müssen pünktlich sein.

Seit der Entlassung von Santiago hat es bei Gorillas in Berlin immer wieder Streiks gegeben, zuletzt vor ein paar Tagen. Weil die Gehälter der Kuriere zu spät ausbezahlt wurden, die Arbeitskleidung für Dauerregen unbrauchbar war - und weil es immer wieder zu Unfällen kommt.

"Gorillas Workers Collective" ersetzt Gewerkschaft

Die Streiks finden unabhängig von den großen Gewerkschaften statt. Die Rider haben sich im "Gorillas Workers Collective" selbst organisiert, das inzwischen sogar eine eigene Streikkasse hat. Sie fordern unter anderem die vollständige Ausbezahlung aller Löhne, gleichen Lohn für gleiche Arbeit und eine bessere Arbeitsausrüstung. Bislang hat Gorillas keine der Forderungen vollständig erfüllt.

Recruiter John sagt, in der letzten Woche habe es in München 17 Unfälle von Ridern gegeben, das müsse weniger werden, "haltet euch an die Verkehrsregeln".

Die Versuchung ist groß, Verkehrsregeln nicht einzuhalten

Er reicht einen Bogen Papier mit QR-Codes durch die Bewerberreihen. Als wir sie scannen, öffnet sich ein Standort bei Google Maps, jeder bekommt einen anderen. Wir sollen, sagt John, dorthin fahren und die Hausnummer fotografieren. Die sollen wir dann in eine gemeinsame Telegram-Gruppe stellen. Drei, zwei, eins, los.

Wir schwingen uns auf unsere Fahrräder und radeln los, Georg und ich nebeneinander. Er sei gerade mit der Schule fertig geworden, sagt Georg, und suche einen Studentenjob. Von den Streiks in Berlin hat er nichts mitbekommen. Georg hält sich an die Verkehrsregeln, deshalb haben wir Zeit zu quatschen, die Münchner Innenstadt ist voller roter Ampeln. Irgendwann muss ich abdrehen. Ich bin spät dran. Die Versuchung, mit dem Smartphone (und damit der Karte) in der Hand zu fahren, ist groß. Verkehrsregeln oder Schnelligkeit?

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Viele ihrer Arbeitsfahrräder, schreibt das "Gorillas Workers Collective" in einer Stellungnahme, hätten keinen Telefonhalter; die meisten seien nicht gefedert und in einem "Zustand der Vernachlässigung": "Allein in der letzten Woche gab es im Warenhaus Bergmannkiez drei Unfälle, die im Krankenhaus endeten."

"Telefon-Halterungen sind hier nämlich Luxus"

Anruf bei Jakob, Rider aus Berlin und Mitglied im "Gorillas Workers Collective": Haben die vielen Unfälle etwas mit den fehlenden Telefon-Halterungen zu tun? "Manche bestimmt", sagt Jakob. "Telefon-Halterungen sind hier nämlich Luxus." In seinem Warenhaus hätten nur fünf oder sechs der etwa 60 E-Bikes Telefon-Halterungen. "Aber ein größeres Problem sind die E-Bikes selbst", erklärt Jakob. "Viele der E-Bikes haben nur eine Bremse. Und die geht schnell mal kaputt." Dazu käme das schwere Gewicht auf dem Rücken der Fahrer. "Das macht es schwer zu reagieren, wenn etwas passiert."

In Reaktion auf die Proteste hat das Gorillas-Management vor Kurzem angekündigt, fortan eine Waage in den Warenhäusern zur Verfügung zu stellen und Lieferungen, die schwerer sind als zehn Kilogramm, auf zwei Rider aufzuteilen. Auf dem Rücken tragen sollen die Rider die Rucksäcke nach dem Willen des Konzerns aber weiterhin.

Enormer Druck durch Lieferzeit-Statistiken

Als ich bei der richtigen Hausnummer ankomme, sind zehn Minuten bereits um. Nur vier von acht Ridern haben es in der vorgegebenen Zeit geschafft. "Wenn man es nicht schafft, in zehn Minuten zu liefern, kann das bei manchen Managern wirklich Probleme bereiten", sagt Jakob vom Gorillas Workers Collective: "Unsere Vorgesetzten führen nämlich eine Liste mit Statistiken über unsere Lieferzeit. Und ob es Baustellen gab auf der Route oder viele rote Ampeln - das ist für diese Statistik ganz egal. Das baut einen enormen Druck auf."

Fehlende Handyhalterungen, beschädigte Fahrräder, schwere Rucksäcke - und immer der Druck, in zehn Minuten am Ziel zu sein. Ich beginne zu verstehen, woher die vielen Unfälle kommen.

Zahlreiche Unfälle in einer Woche

Ich schreibe Gorillas eine Mail und frage, ob es stimmt, dass es in München zuletzt 17 Unfälle in einer Woche gegeben habe. "Wie in jedem anderen Unternehmen auch, kann es bedauerlicherweise zu Unfällen kommen", schreibt der Konzern.

"Wir geben allen Mitarbeitern die Zeit, die sie brauchen, um eventuelle Folgen des Unfalls auszukurieren, bei voller Lohnfortzahlung und entsprechender Unfallversicherung. Der Beruf als Lieferant ist mit körperlicher Arbeit und der Teilnahme am Straßenverkehr verbunden, Unfälle lassen sich da leider nicht vollkommen ausschließen." In München hat es bislang keine Streiks bei Gorillas gegeben. Ob das so bleibt?

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31 Kommentare
Bitte beachten Sie, dass die Kommentarfunktion unserer Artikel nur 72 Stunden nach Veröffentlichung zur Verfügung steht.
  • Weigand am 21.07.2021 15:36 Uhr / Bewertung:

    Man beachte! Dieses margenschwache,konkurrenzgetriebene Unternehmen das an sich keinen "Witz" wie vielleicht irgendein Hightech hat,mit 1000 Mitarbeitern, wird mit 1 Mrd. bewertet? Eine neue irrsinnige Stilblüte des billigen Geldes.

  • katzenfliege am 21.07.2021 15:53 Uhr / Bewertung:
    Antwort auf Kommentar von Weigand

    Nur darum geht es bei solchen "Unternehmen" doch: Hochjagen und dann abkassieren.

  • Der wahre tscharlie am 21.07.2021 15:35 Uhr / Bewertung:

    Alleine schon die sechsmonatige Probezeit. Als ob das ein hochqualifizierter Job wäre. Und danach heißts, ne is nich, aber danke das du für uns sechs Monate lang Geld reingefahren hast.

    Solange sich Leute finden lassen, die diese Jobs zu diesen Bedingungen machen, werden diese Firmen existieren. Leider ist es so, dass manche die dort arbeiten, das Geld wirklich brauchen. Und das wissen diese Unternehmen genau.

    In den anderen Lieferdiensten schaut es doch nicht viel anders aus. Profitmaximierung mit möglichst niedrigem Einsatz. Und wer nicht spurt, fliegt.
    Amerikanischer Brutal-Kapitalismus. Warum wohl sind diese ganzen Lieferdienste an der Börse? Weil sie sozialverträglich arbeiten lassen ? grinsen grinsen

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