Liebe? Nein, Freiheit!

Frei nach Fontane und doch den Geist getroffen: Eine neue, bewegende „Effi Briest“
von  Abendzeitung
Von der naiv neugierigen Kindfrau zur sinnlich emanzipierten Frau: Julia Jentsch ist Effi Briest.
Von der naiv neugierigen Kindfrau zur sinnlich emanzipierten Frau: Julia Jentsch ist Effi Briest. © constantin

Frei nach Fontane und doch den Geist getroffen: Eine neue, bewegende „Effi Briest“

9„Häh? Da war doch gar nichts!“ Lehrer müssen sich das oft von Schülern anhören, wenn „Effi Briest“ durchgenommen wird. Denn Theodor Fontane konnte 1894 den moralischen Skandal nur zwischen den Zeilen erzählen – durch erhitzte Wangen in Wäldchen und Kutschen. In Hermine Huntgeburths Verfilmung zieht Julia Jentsch sich in einem verfallenen Strandhaus in den Ostseedünen aus. Halb zieht er sie, halb sinkt sie hin. Aber Effi will die Affäre.

„Ist das jetzt Liebe?“, fragt sie den romantischen Kaltduscher Crampas (Misel Maticevic) nach ihrem ersten Orgasmus. „Nein, Freiheit“, entgegnet er. Und es ist die Freiheit des Drehbuchs (Volker Einrauch) Fontanes Geschichte der Effi Briest freier zu erzählen und auch anders.

Nicht „Vergnügungssucht und Ehrgeiz“ bringen die „arme Effi“ (Fontane) zu Fall, sondern Gesellschafts-Korsetts, Ehrbegriffe und die Angst eines – eigentlich schwachen – Karrieristen: Ehemann Baron Innstetten (Sebastian Koch) vor dem Gesichtsverlust. Der schießt den „kleinen Crampas tot“, den sie nicht einmal geliebt hat – sechs Jahre nach der Affäre im Duell. Danach bei Fontane: Scheidung, ihr gesellschaftlicher Fall und ein schnelles Verdämmern im elterlichen Schoß. Der Film aber lässt Effi leben und sich emanzipieren. Er folgt eher dem Schicksal von Elisabeth von Ardenne (1853 - 1952), dem lebendigen Vorbild der Fontane-Figur.

Die neue „Effi Briest“ ist ein Beispiel, wie eine Literaturverfilmung gelingt, wenn sie über Handlungsabfilmen hinausgeht. Man kann sogar große Texttreue feststellen, aber man wird als heutiger Zuschauer in ein brisantes, bewegendes Drama der Kaiserzeit entführt. Und verführt von einer brillanten Julia Jentsch, die von der neugierig naiven Kindfrau, zur sexuell selbstbestimmten und letztlich starken Frau wird.

Fontane sei der romanhaft vorweggenommene Sigmund Freud, ist ein Literaturwissenschafts-Diktum. In diesem Sinne hat die Regisseurin Hermine Huntgeburth die Geschichte psychologisch zugespitzt – nicht nur den Ehe- und Machtkonflikt eines ungleichen Paars, wo das Liebesleben zum Albtraum wird, weil über Sex nicht gesprochen werden kann. Auch die Eltern-Ehe (Thomas Thieme und Juliane Köhler) und die Mutter-Tochter-Eifersucht ist vertieft, bis hin zur angedeuteten und unausgelebten Homosexualität bei Effis bestem Freund, dem schöngeistigen, charmanten Apotheker Gieshübler (Rüdiger Vogler). Dieser Film wagt, und gewinnt – sicher auch das Publikum. Adrian Prechtel

Kino: City, Filmcasino, Gloria, Cinemax, Solln

R: Hermine Huntgeburth nach T. Fontane (D, 118 Min.)

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