Interview

KVR-Chefin Hanna Sammüller-Gradl: "Wir brauchen mehr Willkommenskultur" in München

Die erste Frau im Amt: Vor genau einem Jahr hat Hanna Sammüller-Gradl die Leitung des KVR übernommen. Ein Gespräch über Verbote am Bahnhof, Folgen von Rammstein, mehr Partys für Jugendliche – und die Frage, ob ein CSUler nicht einfach das Gleiche machen würde.
von  Felix Müller, Christina Hertel
Hanna Sammüller-Gradl geht zuversichtlich in ihr zweites Jahr als KVR-Chefin.
Hanna Sammüller-Gradl geht zuversichtlich in ihr zweites Jahr als KVR-Chefin. © Bernd Wackerbauer

München - München wächst und damit auch die Aufgaben für Kreisverwaltungsreferat (KVR), der Sicherheits- und Ordnungsbehörde der bayerischen Landeshauptstadt. Im letzten Jahr hat mit Hanna Sammüller-Gradl erstmals eine Frau die Leitung des Referats übernommen. An Themen mangelte es der neuen Referentin dabei nicht.

Im AZ-Interview spricht Hanna Sammüller-Gradl darüber, wie die Zuwanderung in München bewältigt worden soll, warum es bei der Digitalisierung im Referat noch Nachholbedarf gibt und wie sie die Situation rund um die umstrittenen Rammstein-Konzerte erlebt hat. 

Mehr Raum für junge Menschen in München: "Erfolgreich sind wir, wenn wir unentdeckte Orte erschließen"

AZ: Frau Sammüller-Gradl, Sie wollen für eine Großstadt stehen, die Freiheit bietet. Wo ist München freier geworden in Ihrem ersten Jahr?
HANNA SAMMÜLLER-GRADL: Ein neues Stück Freiheit ist, dass wir Veranstaltungen durchführen lassen an Orten, wo das bisher nicht möglich war. Das ist wichtig für junge Menschen, auch wegen des Clubsterbens.

Wann ist dieses Projekt erfolgreich? Wenn es etliche solcher Partys jede Woche gibt?
Erfolgreich ist es dann, wenn wir Unorte, unentdeckte Orte erschließen. Wie an einer Isar-Brücke, die erstmal ein lauter Ort ist, von Verkehr umgeben und wo man dann plötzlich gerne im Sand sitzt auf einem Liegestuhl.

Aber in der Stadt gelten nach Ihrem ersten Jahr als KVR-Chefin eigentlich die selben Verbote wie vorher auch, etwa das Alkoholverbot am Hauptbahnhof. Geht einfach alles so weiter wie davor?
Die Verordnung wurde bewusst nur um ein Jahr verlängert. In dieser Zeit wird eine Studie durchgeführt, die untersucht, welche Konsequenzen die Alkoholverbotsverordnung für wen hat.

Hanna Sammüller-Gradl zum Alkoholverbot am Hauptbahnhof: "Bei der SPD ist das Bild nicht einheitlich"

Warum?
Wir wollten wissen, was hinter dem Rückgang der Straftaten am Hauptbahnhof steckt. Ist es wirklich das Alkoholverbot, welche Rolle spielen Corona und die Umbauten? Das zu wissen, war essenziell für den Stadtrat.

Na ja. Die Mehrheit aus SPD und CSU ist doch einfach anderer Meinung als Sie. Die finden ein Verbot toll, Sie nicht.
Bei der SPD ist das Bild da nicht einheitlich. Eine Klarheit wollen aber alle Stadträte haben. Was ist eigentlich mit den Leuten, die davor am Hauptbahnhof Alkohol getrunken haben? Wo sind die jetzt? Sind sie vielleicht irgendwo, wo gar keine Hilfe mehr an sie rankommt?

Das heißt, grundsätzlich stehen Sie dem Alkoholverbot oder dem Sperrbezirk immer noch so kritisch gegenüber wie bei Amtsantritt? Den Schwung und die Konfrontationslust haben Sie nicht verloren, in Ihrem ersten Jahr?
Gar nicht! Überhaupt nicht. Beim Alkoholverbot habe ich ja gerade nicht gesagt, die Anwohnenden, die Geschäftsleute finden das gut, deshalb verlängern wir es einfach.

Und beim Sperrbezirk?
Bei dieser Verordnung ist es wichtig, dass wir langsam und behutsam vorgehen. Wir können sie nicht ändern, dafür brauchen wir die Regierung von Oberbayern. Jetzt haben wir einen Runden Tisch mit Verwaltung, Stadträten, der Polizei. Bei so heiß diskutierten Themen ist mir das wichtig. Ich will es auf breite Füße stellen, eine gute Argumentation haben - und Rückendeckung. Was wir schon heute können, ist die Beratung der Menschen, die sich prostituieren. Und diese läuft im KVR sehr gut, bewusst im engen Austausch mit Beratungsstellen, Polizei, Gesundheits- und Sozialreferat.

Einwanderung in München: "Alles versuchen, Menschen mit Migrationshintergrund willkommen zu heißen"

Es gibt Menschen, die es sehr gut und wichtig fanden, dass gerade Ihr Amt eine Grünen-Frau übernimmt. Jetzt treten Sie hier stark als überparteiliche Spitzenbeamtin auf. Kann es sein, dass der Unterschied doch gar nicht so groß wäre, wenn ein CSU-Mann Ihrer Generation das KVR leiten würde?
Ich habe in diesem Jahr schon sehr viel angestoßen, was eine weibliche und grüne Handschrift trägt, etwa, wenn es um Prostitution geht oder um den Schutz von Menschen, die am Rande der Gesellschaft stehen. Wir wollten alles versuchen, Menschen mit Migrationshintergrund willkommen zu heißen.

Aber?
Aber ja, ich bin hier natürlich eine Behördenleiterin. Bei den Möglichkeiten, die ich habe, sehen Sie aber eine deutliche Handschrift. Und ich glaube auch, dass bei den Menschen ankommt, dass im KVR ein frischer Wind weht.

Auf der Straße sehen diese Menschen aber nach wie vor den Kommunalen Außendienst patrouillieren, den Grüne und SPD doch laut Koalitionsvertrag reformieren wollten. Warum stockt auch dieses Projekt?
Das stockt überhaupt nicht. Eine Frau leitet jetzt den KAD, das ist auch ein Zeichen. Wir haben Strukturen verändert, Hierarchien abgebaut, den Bereich Schulungen und Fortbildung enorm verstärkt.

Das heißt: Grundsätzlich sind Sie nun pro städtische Hilfssheriffs?
Wir sind in Absprache mit Grün-Rot, wie der KAD künftig eingesetzt werden soll.

Wie stellen Sie persönlich sich das vor?
KAD-Mitarbeiter haben wir zum Beispiel zur Unterstützung am Luisengymnasium zur Verfügung gestellt.

Was machen die da?
Die sind, nachdem es zu Übergriffen gekommen ist, unterwegs im Alten Botanischen Garten und schauen morgens, dass die Schülerinnen und Schüler da gut durchkommen. Sie haben vermehrt auch die Aufgabe, gebrauchte Spritzen einzusammeln. Wir haben überlegt, den KAD auch in Grünanlagen einzusetzen, damit dort städtische Mitarbeiter statt privater Sicherheitsdienste unterwegs sind. Sie haben auch schon im KVR informiert, wie man digital an Termine kommt, könnten vielleicht helfen, wo es an Ordnern fehlt.

Ein Jahr Leiterin des KVR: "Ich glaube, ich bin total gewachsen"

Ihre Fraktion, die Grünen, wollten den KAD ganz abschaffen. Ist das ein Bereich, wo Sie mit Ihren Stadträten einen Dissens haben?
Im Koalitionsvertrag steht, dass der KAD reformiert werden soll. Und das umzusetzen, ist jetzt meine Aufgabe.

Sie hätten sich vor einem Jahr wahrscheinlich nicht vorstellen können, einmal Klebstoffmitführverbote für Klimaaktivisten zu erlassen. Wie hat Sie Ihr Amt verändert?
(überlegt lange). Ich glaube, ich bin in dem Jahr total gewachsen. Ich musste viele Sichtweisen einnehmen, die ich erst vielleicht nicht gehabt hätte.

Zum Beispiel?
Ich habe zum Beispiel grundsätzlich die Haltung, dass wir die Innenstadt beleben und vielen Menschen ermöglichen sollten, unter freiem Himmel zusammenzusein. Als Kreisverwaltungsreferentin bin ich aber auch viel mit den Bezirksausschüssen im Gespräch und dann geht es plötzlich darum, ob Flächen wirklich versiegelt werden müssen. Was passiert, wenn sich jemand gar nicht an die Regeln hält, um Anwohnende.

Sammüller-Gradl: "Als Problemgruppe würde ich die Aktivisten nicht bezeichnen"

Was war noch neu?
Spannend sind einfach auch die vielen Themenbereiche, zum KVR gehört ja die Branddirektion genauso wie die Kommunale Verkehrsüberwachung. Aber auch viele Mitarbeitende im Schlachthof.

Sie sind ja nicht nur Chefin der Kontrolleure, sondern auch Grüne. Wie ist aus dieser Sicht Ihr Blick auf den alten Schlachthof, mitten in der Stadt?
Die rechtlichen Rahmenbedingungen, die die Schlachtung ermöglichen, laufen. An sich noch länger. Aber wenn ich den Ort selbst unter Gesichtspunkten der Fleisch-Hygiene betrachte, würde ich sagen: Es gibt bessere Orte, um zu schlachten.

Noch mal zurück zu den Klimaklebern: Sie kommen selbst aus der grünen Bewegung. Wie hat sich Ihr Bild von den Protesten verändert, seit die Leute für Sie eine Problemgruppe sind?
Als Problemgruppe würde ich die Klimaaktivisten nicht bezeichnen wollen.

Aber sie schaffen ständig neue Probleme, mit denen Sie im KVR umgehen müssen.
Ja, klar. Sie sind eine neue Herausforderung, mit der ich und wir alle lernen müssen umzugehen.

Sie hatten den Plan, ins Gespräch zu kommen mit den Straßenblockierern. Mit dem radikaleren Teil hat das offensichtlich nicht geklappt.
Wir versuchen als Versammlungsbehörde immer, zu Kooperationsgesprächen zu kommen, das Angebot steht. Aber es wurde bisher nicht angenommen.

Gauweiler-Zeit im KVR: "Existenzen wurden zerstört"

Vor einem Jahr haben Sie öffentlich angekündigt, dass die Gauweiler-Zeit Ihres Hauses aufgearbeitet wird, als die Stadt hart gegen Treffpunkte der schwulen Szene vorging. Wir hören, dass auf diese Ankündigungen kaum was gefolgt ist.
Dass da nichts passiert wäre, kann man wirklich nicht sagen. Mein Diversity-Stab hat sich mit sehr vielen Betroffenen ausgetauscht. Konzeptionell haben wir uns dann für ein Erzähl-Café entschieden.

Was ist der Gedanke dahinter?
Was ans Herz geht, sind die Geschichten. Natürlich könnten wir einen Bescheid präsentieren, dass ein Saunaclub geschlossen werden musste. Aber wenn sie die Geschichte dahinter kennen: Jemand kommt aus dem bayerischen Umland und musste sich sein Leben lang verstellen, dann hat er endlich den Schneid in die Stadt zu gehen und baut sich hier eine Existenz auf und dann bekommt er eine Untersagung – das ist doch etwas ganz anderes! Da wurden Existenzen zerstört.

Was passiert nun mit diesen Geschichten, mit diesem Stück KVR-Geschichte?
Wir haben eine externe Journalistin angestellt, die das Ganze jetzt recherchieren und aufarbeiten wird.

Rammstein-Konzerte in München: "Das Awareness-Team war ein wichtiger Schritt"

Sprechen wir noch über Rammstein. Welche Schlussfolgerungen sind für künftige Veranstaltungen zu ziehen?
Das Awareness-Team fand ich einen wichtigen ersten Schritt. Allein der Umstand, dass der öffentliche Druck auf den Veranstalter so groß war, dass er selbst die Notwendigkeit gesehen hat.

Überrannt worden ist das Team bei den Konzerten eher nicht.
Überrannt worden ist es nicht, das kann man sagen. Aber alleine die Sichtbarkeit ist gut, sie zeigt, dass Übergriffe hier nicht geduldet werden. Und wir wissen ja auch nicht, ob es sonst zu Übergriffen gekommen wäre.

Hanna Sammüller-Gradl (l.) beim Interview im KVR mit AZ-Rathausreporterin Christina Hertel (r.) und AZ-Lokalchef Felix Müller.
Hanna Sammüller-Gradl (l.) beim Interview im KVR mit AZ-Rathausreporterin Christina Hertel (r.) und AZ-Lokalchef Felix Müller. © Bernd Wackerbauer

Die "Row Zero" vor der Bühne haben Sie verboten.
Es sind schockierende Geschichten von den jungen Frauen. Dass der Bühnengraben ein Teil dieses Systems war, das Anlocken, das Vereinzeln ohne den Schutz der Gruppe. Für uns als KVR kommt ein feuerpolizeilicher Aspekt dazu. Im Bühnengraben hat einfach auch niemand was zu suchen, der nicht genau weiß, wann da welche Pyrotechnik losgeht. Das ist auch klare Meinung der Branddirektion.

Führen diese Debatten nun dazu, dass Sie im KVR ganz neue Konzepte für künftige Riesenkonzerte entwickeln?
Es gibt zumindest schon einen Stadtratsantrag. Das ist ein Auftrag, den ich gerne annehme.

Termine für den Kirchenaustritt: "Wir verschwenden Kapazitäten"

Welche Bereiche waren in Ihrem ersten Jahr furchtbar mühsam?
Am mühsamsten ist schon die Digitalisierung. Ich finde: Wir sind da auf einem Weg.

Aber?
Mein Klassiker ist der einfache Kirchenaustritt. Das haben wir fix und fertig, wir könnten es von heute auf morgen umstellen. Wir könnten Beamtinnen und Beamte sparen, die wir anderswo gut brauchen könnten. Aber wir verschwenden Kapazitäten, weil wir das nicht dürfen. Ich finde: Man müsste einfach in Ruhe für sich selbst am Sandstrand überlegen können, dass man aus der Kirche austritt. Dafür muss ich doch keinen persönlichen Termin im KVR machen.

Was sind bei der Digitalisierung die nächsten Schritte?
Wir haben einen Chat-Bot für die Landtagswahl, im Fundbüro kommt eine Online-Versteigerung, bei Fundsachen kommt eine Art Tinder, wo man schnell checken kann, ob das rote Tuch mit Fransen gefunden wurde.

Hanna Sammüller-Gradl: "Wir brauchen einfach richtig viele Leute in München"

In der Ausländerbehörde war Anfang des Jahres Chaos. Geht es da aufwärts?
Wir hatten da zusätzlich viele Tausend Ukrainerinnen und Ukrainer, die registriert wurden. Aber ja, das ist weitgehend abgearbeitet. Wir schaffen zusätzliche Stellen, haben jede Woche Notfalltermine, viel mehr Menschen in der Telefonberatung, machen Sprachkurse für Mitarbeitende, haben die Leitung ausgetauscht. Das ist jetzt eine Frau, die aus der Asylberatung kommt, auch den Blick der Nichtregierungsorganisationen hat. Mir war sehr wichtig, dass die langen Schlangen vor dem Winter weg sind. Hier haben wir, wie insgesamt, viel getan für die Digitalisierung. Insgesamt will ich die Ausländerbehörde den aktuellen Gegebenheiten anpassen.

Was heißt das?
Diese Behörde ist ja ursprünglich geschaffen als eine Ordnungsbehörde, die Wache steht, aufpasst, dass nicht zu viele Leute kommen.

Wie sehen Sie die Aufgabe?
Das hat sich total geändert! Wir brauchen einfach richtig viele Leute, in Deutschland, in München. Nicht nur Fachkräfte, wir brauchen alle: in der Gastronomie, in der Pflege, aber auch Ingenieurinnen! Was wir brauchen, ist noch viel mehr Willkommenskultur. Und meine Ausländerbehörde wird der Wirtschaftsmotor, da hält nichts anderes mit. So sollten wir das in München sehen.


Hanna Sammüller-Gradl (39) war einst Chefin der Grünen Jugend Münchens. Sie leitet seit dem 1. Juli 2022 als erste Frau und erste Grüne das Kreisverwaltungsreferat, in dem einst die Hardliner Gauweiler und Uhl die Geschäfte führten.

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