Kunstfehler: Amputation ohne Grund

München - Dieter M. (60) teilt sein Leben in die Zeit vor und nach der Prothese ein. Dem Außendienstler war 2006 der Unterschenkel amputiert worden. Vor der Amputation war er ein sportlicher Typ, der gerne wanderte, spazieren ging oder radelte. „Das alles geht jetzt nicht mehr.“ Er habe außerdem seinen Job verloren. „Mein Mann litt immer wieder an Phantomschmerzen“, berichtet seine Frau Ingrid (58).
Besonders bitter: Die Amputation damals sei völlig unnötig gewesen, sagt der 60-Jährige. Er beklagt einen Ärztefehler, verlangt vom Krankenhaus Schmerzensgeld und Schadenersatz. Der Streitwert des Verfahrens beläuft sich auf 351 481 Euro.
In erster Instanz hatte sich der Viechtacher im vergangenen Jahr durchgesetzt. Doch das Krankenhaus ging in Berufung. Jetzt liegt die Klage beim Arzthaftungssenat des Oberlandesgerichts in München.
Die Leidensgeschichte von Dieter M. begann im Jahr 2005. Weil im Kreiskrankenhaus Viechtach eine arterielle Verschlusskrankheit im rechten Bein festgestellt worden war, wurde er dort am 17. August operiert. Dabei legten ihm die Ärzte einen Bypass am rechten Unterschenkel an. Doch in der Folge kam es zu Bypassverschlüssen und mehreren Folgeoperationen. Am 3. März 2006 musste ihm dann der rechte Unterschenkel amputiert werden.
Dieter M. zog vor Gericht. Er wirft dem Krankenhaus unter anderem vor, er sei nicht ordnungsgemäß und vollständig über die Risiken der Operationen aufgeklärt worden. Auch Behandlungsalternativen seien ihm damals vor der ersten OP nicht aufgezeigt worden.
Für das Oberlandesgericht stellte sich aber vor allem eine Frage: Hätte der Gefäßchirurg erkennen müssen, dass bei Dieter M. eine Arterie im Becken geknickt war? Dazu wurde ein Experte befragt. Und der machte schnell und eindeutig klar, dass es bei der Amputation um einen ärztlichen Kunstfehler handelte. Die Verengung sei auf der damals angefertigten MR-Angiographie (ein bildgebendes Verfahren zur diagnostischen Darstellung von Blutgefäßen) klar erkennbar und auch messbar gewesen. Auf der rechten Seite sei das Blutgefäß nur drei Millimeter im Durchmesser. Sein Gegenüber brächte es auf 8,5 Millimeter.
Die Prozessbeteiligten konnten sich davon selber auf dem Laptop des Mediziners überzeugen. Das sei auch nicht als „kleiner Fehler“ des behandelnden Arztes zu werten, sondern sei „grob fehlerhaft“, urteilt der Experte.
Der Arzt hätte die Verengung erkennen und vor einer Bein-OP zumindest weitere Diagnosemittel einsetzen müssen. Nach Überzeugung des Sachverständigen hätte Dieter M. noch jahrelang mit Unterschenkel weiterleben können. Wenn die Gefäßverengung im Becken erkannt und behandelt worden wäre.
Die Argumente der Klinik, dass ein etwaiger Behandlungsfehler nicht ursächlich für die Amputation war, zerbröselten angesichts dieses Gutachtens. Auch dass der Kläger Diabetiker sei, unter Bluthochdruck leide und starker Raucher sei, änderte daran nichts.
„Das reicht juristisch“, fand auch der Senats-Vorsitzende Thomas Steiner. Er empfahl dem Krankenhaus angesichts dieser Beweislage, die Berufung zurückzunehmen und einen Vergleich anzustreben. Das Landgericht hatte seinerzeit 400 000 Euro vorgeschlagen.
Der behandelnde Arzt konnte übrigens nicht mehr zu seinem vermeintlichen Fehler befragt werden. Er ist in der Zwischenzeit verstorben.