Interview

Krisenstabs-Leiter über ankommende Ukraine-Flüchtlinge: "7.000 pro Woche - mindestens"

Es sind dramatische Tage auch in München. Hier spricht der Chef des städtischen Krisenstabs über die ankommenden Flüchtlinge, Grenzender Hilfsmöglichkeiten- und den Zivilschutz.
von  Nina Job
Auch in der Sporthalle der Berufsschule in der Ruppertstraße sind Flüchtlinge aus der Ukraine untergebracht worden.
Auch in der Sporthalle der Berufsschule in der Ruppertstraße sind Flüchtlinge aus der Ukraine untergebracht worden. © Daniela Haupt/BRK

München - Sein Büro ist im zweiten Stock der Hauptfeuerwache in der Nähe des Sendlinger Tors. Wolfgang Schäuble (59) ist Chef der Münchner Berufsfeuerwehr mit mehr als 2.200 Mitarbeitern. Seit zwei Jahren ist er außerdem operativer Leiter des städtischen Krisenstabs Corona.

Als "Marathon" hat er diese Aufgabe mal bezeichnet. Nun ist noch eine zweite Mammutaufgabe dazugekommen: Schäuble ist nun auch noch Leiter des Krisenstabs "Ukraine".

AZ: Herr Schäuble, was haben Sie gedacht, als Oberbürgermeister Dieter Reiter fragte, ob Sie noch einen zweiten Krisenstab übernehmen können?
WOLFGANG SCHÄUBLE: Er hat mich am Freitag vor zwei Wochen angesprochen und ich dachte: Oh, herausfordernd, aber auch sehr spannend. Mir war die Tragweite klar, weil ich bereits bei der Bewältigung der Flüchtlingsströme 2015 intensiv eingebunden war.

Können Sie kurz schildern, wie die Lage für Flüchtlinge in München derzeit ist? Was sind die größten Unterkünfte?
Hauptsächlich kommen Frauen mit oft kleinen Kindern, häufig auch noch am späten Abend an. Es geht in erster Linie darum, die Menschen zu versorgen und zunächst kurzfristig unterzubringen. Wir bemühen uns, unsere Strukturen zu verbessern und täglich weitere Unterbringungskapazitäten zu erschließen. Wir greifen zum Beispiel auf die Sporthallen der Berufsschulzentren zu. Da werden 300 bis 500 Betten pro Turnhalle aufgestellt, die müssen natürlich auch betreut werden. Das stellt das System vor große Herausforderungen, zumindest wenn man es für einen dauerhaften Betrieb in professionelle Hände geben will. Eine weitere große Unterkunft ist auf der Messe mit 1.500 Plätzen.

Sind die Schüler an den betreffenden Berufsschulen derzeit im Distanzunterricht?
Nein, wir belegen ja nur die Sporthallen. Es fällt nur der Sportunterricht aus.

Wolfgang Schäuble
Wolfgang Schäuble © Bernd Wackerbauer

Über wie viele Unterbringungsplätze verfügen Sie?
Das wechselt stündlich. Bis Ende des Wochenendes sind es mehr als 6.000.

12.000 Flüchtlinge sollen nach München kommen

Sie rechnen also damit, dass noch richtig viele Flüchtlinge aus der Ukraine nach München kommen?
Der Freistaat hat die Vorgabe gemacht, dass wir uns auf 12.000 in München einrichten sollen, die untergebracht werden müssen. Die Wahrheit sieht natürlich anders aus. Wenn Berlin überläuft und man dort Menschen weiterleiten will, sagt man einfach: Steigt in einen Zug nach München. Das steht dann am Bahnsteig angeschrieben. Wir sind hier im Süden also herausgehobener Anlaufpunkt. 80 Prozent der Ankommenden sind derzeit über Ungarn geflüchtet. Wenn nun auch Menschen aus Polen zu uns weitergeleitet werden, erhöhen sich die Ankunftszahlen beträchtlich.

Wir haben seit mehr als zwei Wochen Krieg, die Menschen kommen nicht überraschend. Trotzdem gab es vorige Woche die Situation, dass Kinder am Bahnhof nachts auf dem Boden schlafen mussten. Was ist da schiefgegangen?
Normalerweise kriegen wir Zugankündigungen. Von der Bundespolizei und der Deutschen Bahn. In der Regel haben sie einen guten Überblick, ob nennenswerte Mengen von Menschen in den Zügen sind. Im Regelfall kommen um 0.50 Uhr die letzten Züge an. Da ist irgendwo eine Voranmeldung nicht ganz durchgegangen. Gleichzeitig war bereits der Notbetrieb am Hauptbahnhof eingeleitet. Und dann sind auch noch mehr gekommen, als üblicherweise in diesen Zügen. Das hat vorübergehend für etwas ungute Zustände gesorgt.

Was hat sich seitdem geändert?
Wir sind jetzt in einem ständigen Nachtbetrieb und Weiterleitungsbetrieb, sodass die Menschen weiter zu ihren Notunterkünften kommen. Allerdings gibt es auch einige, die den Bahnhof lieber nicht verlassen möchten.

Trotzdem wirkt es so, als ob die Stadt nicht so gut vorbereitet war, wie sie hätte sein können. Spielt eine Corona-Müdigkeit eine Rolle?
Es ist kompliziert. Und der Standard, der von allen Seiten erwartet wird, ist relativ hoch. Wenn es aber schnell gehen muss, muss man Kompliziertheiten reduzieren und nicht auf den höchsten Standard schauen. Sonst wird man in der Gemengelage aufgerieben.

Was würde denn jetzt am meisten helfen?
Klarere Prognosen zu dem, was täglich ankommt, und Unterstützung durch den Freistaat, dass Flüchtlinge auch wieder aus München ins Umland weitergeleitet werden können. Um diese bemüht sich gerade der Oberbürgermeister intensiv.

Fühlen Sie sich alleingelassen?
Nein, und selbst wenn, es hilft ja auch nicht weiter.

Ukraine-Stab tagt zwei Mal täglich

Sie klingen frustriert.
Nein, aber wenn man die Flüchtlingskrise 2015 erlebt hat, ist es bedauerlicherweise ein ewig gleicher Prozess, bis Bund und Länder sich selbst als Betroffene fühlen und die Steuerung so übernehmen, dass es Reglungen gibt. Insofern ist das etwas mühsam.

Wie oft tagen die Stäbe?
Wir haben ja drei. Einen übergeordneten mit dem Oberbürgermeister und dann noch zwei operative in den Referaten: Im Corona-Stab wird täglich, im Ukraine-Stab zwei Mal täglich getagt. Die Abstimmungsprozesse sind sehr umfangreich. Es braucht ein Team, das Unterkünfte sucht, das nächste, das die Ausstattung besorgt und herrichtet und das dritte, das dafür sorgt, dass Essen da ist, dass Müll entsorgt wird, dass irgendjemand zum Beispiel eine Kopfwehtablette ausgeben kann. Das ist ja nichts, was einfach von allein geht.

Wie viele Personen umfasst dieses Netz an Kräften, die ermöglichen, dass die Flüchtlinge bei uns untergebracht und versorgt werden können?
Die Stadtverwaltung ist mit mehreren Hundert Personen dabei. Mit den Freiwilligen werden das 2.000 bis 3.000 sein.

Wie läuft es im Hotel Regent, das zum Ankunftszentrum umfunktioniert worden ist?
Wir bringen hier eher Mütter mit einer Vielzahl von kleinen Kindern unter, für die es nicht mehr zumutbar ist weiter zu reisen. Das Regent soll im Kern eine Durchleitungsstation zu den Notunterkünften sein, und es soll für Menschen, die in der Nacht stranden oder die nur eine Nacht bleiben wollen, um dann selbstständig weiterzureisen, als Puffer dienen.

Fünf Millionen Ukrainer auf der Flucht

Ist es eine Art Willkommenszentrum - wie von manchen gefordert?
Mit dem Begriff wäre ich vorsichtig, darunter versteht man ja auch eine umfassende Betreuung mit verschiedenen Angeboten. Ich weiß nicht, ob man das immer gewährleisten kann. Wenn 1.500 Menschen ankommen, intensiv betreut werden sollen und jeder eine halbe Stunde braucht, kann man sich ausrechnen, wann der letzte weg ist und ein Bett hat. Es wird eher ein Verteilzentrum, in dem man prüft, ist jemand Coronapositiv und wo kommt er hin. Man muss aufpassen, was man sich an Qualitätsstandards vorstellt. Es ist in Ordnung, viele Angebote zu machen. Die Frage ist, ob man das in der ersten halben Stunde machen muss.

Mit wie vielen Flüchtlingen rechnen Sie nächste Woche?
Derzeit haben wir Ankünfte von rund 1.500 innerhalb von 24 Stunden. Wenn sich davon nur ein Drittel oder 20 Prozent weiterbewegen, weiß man, welche Kapazitäten innerhalb einer Woche aufgebaut werden müssen. Wir rechnen sicher mit 7.000 Ankünften nächste Woche - mindestens. Dazu Sonderzüge wie der am Samstag. Wie es nach nächste Woche weitergeht, keine Ahnung. In Polen stehen im Moment 1,5 Millionen Menschen. Nach ukrainischen Angaben sind fünf Millionen auf der Flucht.

Mit dem ersten Sonderzug kamen weniger als erwartet. Trotzdem waren es etwa 15 bis 20 Mal so viele wie sonst in einem Zug. Wie ist es gelaufen?
Wir hatten uns gut vorbereitet, es lief problemlos, die Menschen gut zu versorgen. Es gab keine größeren Probleme.

Corona: "Erkleckliches Maß" an Flüchtlingen positiv

Die Aufgaben Ihrer Krisenstäbe überschneiden sich. Wann werden die Ankömmlinge getestet? Und: Lassen sich viele impfen?Getestet wird nach der Ankunft, ein Impfangebot gibt es innerhalb der ersten Tage. Hier kommen die mobilen Impfteams zum Einsatz, wenn sich genügend finden, die sich impfen lassen wollen. Aber das ist gerade mein kleinstes Problem. Ob die das Impfangebot annehmen nach Testen, Unterbringung und Essen ist der nächste Schritt. Es braucht einen logischen Ablaufprozess, sonst zerlegt es uns. Wir müssen Strukturen schaffen, um in einen Regelbetrieb zu kommen.

Sind viele positiv? Und wo bringen Sie die unter?
Wir haben schon ein erkleckliches Maß an Angesteckten. Wir haben eine Notunterkunft, wo wir diese Menschen isolieren. Schwer Erkrankte haben wir bisher keine.

Bräuchte es nicht einen zweiten Herrn Schäuble?
Es könnten auch fünf sein.

Was ist der Worst Case, den Sie befürchten? Es drängen ja immer mehr Menschen nach.
Wir werden das ähnlich wie 2015 schon austarieren. Ich denke schon, dass wir festen Boden erreichen. Dazu müssen die Systeme der Stadt und des Freistaats ineinandergreifen. Die Kanzlerin hat damals gesagt, wir schaffen das. Der Spruch müsste jetzt auch funktionieren.

Noch ein anderes Thema, bitte. Seit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine denken auch bei uns viele über Zivilschutz nach. Gibt es in München ausreichend Schutzorte?
Verständlich, dass sich die Menschen Gedanken machen, aber wahrscheinlich ist das nicht. Ein klassischer Flächenangriff auf München ist ja nicht zu erwarten. Wenn wir beschossen würden, wäre das ja bereits ein Kriegseintritt der Nato. Da mache ich mir keine Sorgen.

Wie viele Bunker haben wir denn noch?
Keine.

Messehallen nächste Anlaufstellen für Flüchtlinge

Am Hauptbahnhof oder unter dem Elisengymnasium - sind das keine mehr?
Doch. Aber der Bund hat sie aufgelassen. Die Logik nach Ende des Kalten Kriegs sah anders aus. Diese Systeme sind in den letzten 30 Jahren zerfallen und deshalb nicht mehr betriebsfähig, also untauglich. Da wurde nie wieder was investiert. Aber wenn einzelne Raketen fliegen würden, hätten wir genügend Möglichkeiten, Menschen systematisch in Kellern, Garagen und U-Bahnhöfen unterzubringen.

Wie ist es mit Sirenen? Gibt es Überlegungen, sie wieder in Betrieb zu nehmen?
Hier gilt das Gleiche. Die Einrichtungen sind aufgelassen worden. Wollte man Sirenen wieder etablieren, müsste man sie instandsetzen und entsprechend warten.

Ist das denn so teuer?
Das würde im Aufbau schon einen deutlich einstelligen Millionenbetrag kosten, der Unterhalt auch nicht unter einer halben Million pro Jahr - da müssen Leute beschäftigt werden für die technische Wartung und so weiter.

Halten Sie das nicht für sinnvoll?
Zur Warnung der Bevölkerung muss man sich für die Zukunft schon was einfallen lassen. Es geht ja auch um Hochwasserschutz und andere Katastrophen.

Es gibt sehr viele freiwillige Helfer, die parat stehen. Mein Eindruck ist: Da hakt es noch mit der Koordination.
Das ist ein weites Feld mit vielen Befindlichkeiten. Die müssen sich untereinander einigen und Gebiete aufteilen. Manchmal klappt es, manchmal nicht.

Wer müsste aktiv werden, um das freiwillige Engagement zu ordnen und systematisieren?
Wir sind ja dran. Am Hauptbahnhof haben wir das schon geregelt, dass sich die Beteiligten in verschiedenen Bereichen absprechen. Beim Sozialreferat gibt es auch eine Anlaufstelle, insofern wird auch hier bereits geordnet.

Wo werden Sie die 7.000 Menschen unterbringen, die nächste Woche erwartet werden?
Nächste Woche werden die Messehallen aktuell. Wir werden weitermachen, solange es erforderlich ist.

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