Krisenhelfer im Interview: "Da kommt man heim und schaut erst ins Kinderzimmer"

München - Dieser Mann trägt unerschütterliche Ruhe in sich. Das ist von der ersten Sekunde an spürbar, die Alexander Buchmann mit einem spricht.
Unfälle, Morde, natürliche Todesfälle, Reanimationen: Sein langjähriges Ehrenamt als Krisen-Notbetreuer in psychosozialen Extremsituationen übt er seit dem 1. Mai für die Aicher Ambulanz Union aus. Auch während des Terroranschlags im Olympia-Einkaufszentrum war er im Einsatz.
AZ: Herr Buchmann, Menschen in massiven Krisensituationen unmittelbar zu betreuen, das ist nicht jedermanns Sache. Was hat Sie dazu gebracht?
ALEXANDER BUCHMANN: Früher, als Feuerwehrmann, habe ich schnell gemerkt, dass es im Einsatz eine Lücke gibt, die man unbedingt schließen sollte. Da fehlte was.
Welche Lücke meinen Sie damit?
Wenn man eine verstorbene Person zu Hause vorfand, gab es Momente, in denen man als Feuerwehrmann die Angehörigen zunächst alleine zurücklassen musste, bis hoffentlich die psychosoziale Notbetreuung ankam. Hier wollte ich mich engagieren.
Wann stellten Sie das fest?
Das kann ich gar nicht genau sagen. Ich war seit meinem 16. Lebensjahr Feuerwehrmann bei der Freiwilligen Feuerwehr in München. Und in den Jahren danach reifte der Gedanke.
Kommt die Krisenintervention eigentlich immer dazu?
Nein. Es gibt nur ein Einsatzstichwort, bei dem wir automatisch mitalarmiert werden - "Person unter Zug", sowohl bei Unfällen als auch bei Suiziden. Bei allen anderen Einsätzen rufen uns die Polizei, der Rettungsdienst oder die Feuerwehr im laufenden Einsatz hinzu, wenn sie sehen, dass Betroffene unsere Unterstützung brauchen.
"Wir halten den Sanitätern auch den Rücken frei"
Welche Situationen sind das?
Wenn zum Beispiel eine Person, vielleicht ein Kind, gerade wiederbelebt wird und Angehörige Begleitung, Beratung und Unterstützung benötigen. Als positiven Nebeneffekt können wir so auch den Notärzten und Sanitätern für deren wichtige Arbeit am Patienten den Rücken frei halten.
Wie sieht so eine Ausbildung zum Mitarbeiter der Krisenintervention eigentlich aus?
Das sind 100 Unterrichtseinheiten zu Themen wie Recht, Psychologie, Psychotraumatologie. Danach muss man im Rahmen der praktischen Ausbildung verschiedene Einsatzindikationen abarbeiten. Tod im häuslichen Bereich, Überbringung einer Todesnachricht, Suizid, Unglücke, bei denen Kinder dabei sind...
"Ich war der Einsatzleiter der Krisenintervention beim Attentat im Olympia-Einkaufszentrum"
Seit 14 Jahren sind Sie bei der psychosozialen Notfallversorgung aktiv. An welche Einsätze erinnern Sie sich bis heute?
(überlegt einige Sekunden) Eigentlich kann ich da nichts hervorheben. Jeder Einsatz ist eine Extremsituation für sich, hat seine besonderen Betroffenen.
Anders gefragt: Gab es Einsätze, die medial sehr präsent waren?
Ja, einige. Ich war unter anderem der Einsatzleiter der Krisenintervention beim Attentat im Olympia-Einkaufszentrum.
"Für Angehörige ist jede Sekunde Unsicherheit ewig"
Den Münchnern ist der Anschlag des Teenagers David S. sehr stark in Erinnerung geblieben. Was war bei diesem Einsatz als Mitarbeiter in der Krisenintervention das Schwierigste?
Ich erinnere mich noch deutlich an die Herausforderung, die Kollegen in einer für alle lebensbedrohlichen Einsatzsituation zu koordinieren. Auch die Koordination, allen Eltern und Angehörigen zusammen mit der Polizei die Todesnachrichten schnellstmöglich und zuverlässig zu überbringen. Für die ist jede Sekunde Unsicherheit eine Ewigkeit. Aber das war nicht das Einzige.
Was noch?
Der Einsatz ging damals im Juli 2016 über mehrere Tage, insgesamt waren es zwei Wochen glaube ich, fast rund um die Uhr. Es herrschte am Anfang so viel Unklarheit. War es ein Amokläufer? Oder waren es doch mehrere? Es geisterten sehr viele Falschmeldungen herum. Das sorgte bei uns in den ersten Stunden für eine permanente Anspannung.
Nun sind das natürlich besonders prominente Fälle. Wie sieht ein typischer, häufiger Einsatz aus?
Der Tod im häuslichen Bereich. Morgens um halb vier oder halb fünf. Das sind oft ältere Münchnerinnen und Münchner, die vielleicht mit einem Gefühl von Unwohlsein aufwachen, auf dem Weg ins Bad zusammenbrechen und eines natürlichen Todes sterben. Vielleicht hatten die Personen auch eine Vorerkrankung. Das passiert wirklich häufig. Dann kümmern wir uns um die Hinterbliebenen.
Wenn Sie an einem Unfallort ankommen, wo ein Mensch in ein Zugunglück verwickelt ist: Was tun Sie da als allererstes?
Da gibt es nur eine Antwort: Wir verschaffen uns erst einen Überblick und kümmern uns schnell um den Zugführer, während die Notärzte den Verunglückten versorgen. So etwas belastet Lokführer oft extrem, auch dann, wenn - mit viel Glück - körperlich gar keine Person zu Schaden kam. Das macht für ihn oder sie keinen Unterschied. Wenn Sie wegen einer Person im Gleis eine Notbremsung einleiten, hoffen Sie, dass nichts passiert. Sie können ja kein Ausweichmanöver fahren wie im Auto.
Eine grauenhafte Vorstellung.
Das ist es, ja.
Wie oft kommen solche Einsätze vor?
Ich kann es wirklich nicht sagen. Unzählige Male. Und jedes Mal sind Lokführer, Augenzeugen, Angehörige und natürlich die verunfallte Person selbst betroffen.
"Auch wenn Personen unverletzt gerettet werden können, sind das dramatische Momente"
Unzählig?
S-Bahn, U-Bahn, Tram, regionaler wie überregionaler Zugverkehr: Das kommt in München leider häufig vor. Und um das klarzustellen. Es geht nicht immer um einen Suizid. Häufig passiert es während der Wiesn. Da fallen sehr oft Betrunkene auf die Gleise. Manchmal zwei bis drei Personen an einem Abend. Da muss man dann auch unfreiwillige Zeugen betreuen. Auch wenn die Personen unverletzt gerettet werden können, sind das dramatische Momente.
Ganz konkret: Wie betreuen Sie so einen unfreiwilligen Zeugen eines Unfalls?
Man kommt an, stellt sich vor und zeigt, dass man jetzt für die Person da ist. Wir vermitteln das Gefühl: Du bist nicht allein. Selten brauchen oder wollen die Leute keine Hilfe, dann lassen wir unsere Flyer und Kontaktdaten da und gehen wieder. Das sind dann Kontaktmöglichkeiten zu verschiedenen Institutionen, die einem helfen können, je nach Bedarf, Suchtberatung, Arche, Psychologen, Frauenberatung, Obdachlosen-Betreuung, Rechtsberatung. Es kommt vor, dass manche Ereignisse bei Betroffenen nachwirken und sie nicht loslassen. Wissen Sie, manchmal betreuen wir aber auch Unbeteiligte, die überhaupt nicht in der Nähe der Ereignisse waren, trotzdem massiv betroffen sind.
"Beim Attentat am OEZ hatten wir Personen, die mit Angstzuständen kämpften, weil sie im Fernsehen davon gehört hatten"
Das verstehe ich nicht.
Beim Amoklauf vom Olympia-Einkaufszentrum war das so. Da hatten wir ganz viele Personen, die mit Angstzuständen kämpften, weil sie im Fernsehen davon gehört hatten. Menschen, die an dem Abend eigentlich vor Ort gewesen wären, aber kurzfristig ihre Pläne geändert haben. Sie riefen bei der Polizei oder beim Rettungsdienst an und baten um Hilfe.
"Wir sind nicht das Kuschelkommando"
Unglaublich. Wie tröstet man so jemanden?
Wir versuchen Sicherheit zu vermitteln und Brücken zu bauen. Wenn es nötig, möglich und gewollt ist, nehmen wir auch mal jemanden in den Arm. Kommt auf die Situation an. Manchmal hilft auch ein fester vertraulicher Händedruck. Aber wir sind nicht das Kuschelkommando, es geht immer um professionelle Betreuung, Beratung und Begleitung. In der Regel aktivieren wir in solchen Fällen die Familie oder Freunde, die der Person helfen, bei ihr sein können. Aber manchmal gibt es einfach kein soziales Netz.
"Es ist beeindruckend, was in einer Krise manchmal möglich ist"
Sie sprechen von vereinsamten Münchnern?
Ein Extrembeispiel war ein kinderloser Hundertjähriger, dessen 20 Jahre jüngere Frau verstorben war. Der hatte sprichwörtlich niemanden mehr. Verwandte, Freunde und Bekannte waren auch schon alle tot. Der konnte alleine nicht mehr zu Hause bleiben.
Was macht man da?
Es war nicht einfach. Wir haben über seine ehemalige Putzfrau jemanden ausfindig gemacht, der an diesem Wochenende und in den nächsten Tagen nach ihm schaute. Er wollte auf keinen Fall ins Krankenhaus und einen Pflegedienst lehnte er ab. Am schlimmsten ist das in anonymen Wohnhausblocks. Aber wir hatten auch schon die Situation, dass wir dann gemeinsam zum Nachbarn gegangen sind, uns vorgestellt haben und so einen neuen Kontakt in der Nachbarschaft herstellen konnten. Das ist oft beeindruckend, was in einer akuten Krise alles möglich ist, welche Türen aufgehen, was Menschen für andere tun.
"Immer, wenn Kinder dabei sind, geht einem das schon an die Nieren"
Es gibt bestimmt Momente, die Sie nicht unberührt lassen, trotz Ihrer massiven Routine. Welche sind das?
Immer, wenn Kinder dabei sind, geht einem das schon an die Nieren. Ich habe auch selbst Kinder. Da kommt man heim und schaut erst einmal ins Kinderzimmer, ob alles in Ordnung ist. Da fließen am Einsatzort viele Tränen. Das ist völlig menschlich, lässt auch uns nicht kalt. Es kann passieren, dass man nach so einem Einsatz erstmal etwas Zeit mit Kollegen braucht.
Hat Sie jemals einer Ihrer Einsätze später bis in den Schlaf verfolgt?
Nein. Bis jetzt war es so, dass man immer mal wieder darüber nachgedacht hat, eben mit Kollegen über den Einsatz gesprochen hat. Aber bis in den Schlaf? Nein.
"Es sind schreckliche Ereignisse mit Toten und Schwerverletzten, zu denen wir gerufen werden"
Trotz der vielen, heftigen Bilder, die Sie bestimmt schon gesehen haben?
Nun, sicherlich, wir fahren nicht zu Einsätzen, bei denen die Katze auf dem Baum klemmt. Es sind schon schreckliche Ereignisse mit Toten und Schwerverletzten, zu denen wir gerufen werden. Aber wir haben ja auch berufsintern Hilfsmöglichkeiten, Supervisionen, Sofortangebote der Kollegenhilfe oder der Leitung, bei denen man sich melden kann, wenn sich irgendein Einsatz im Gedächtnis einbrennen sollte.
Was war für Sie der schwierigste oder anspruchsvollste Moment bis jetzt?
(überlegt einige Sekunden) Ein Suizid, vor einigen Jahren. Die Ehefrau fand den Mann zu Hause vor. Und was mir besonders in Erinnerung blieb: Sie konnte extrem lange nicht aufhören zu weinen und zu schreien, war völlig aufgelöst. Wir konnten sie einfach nicht beruhigen, über Stunden hinweg. Da sind wir mit all unseren Werkzeugen der Stabilisierung an Grenzen gestoßen und mussten die Frau zu ihrer Sicherheit in die Psychiatrie bringen.
Wie lange wollen Sie dieses besondere Ehrenamt noch ausüben?
Das kann ich Ihnen genau sagen. Am ersten Tag, wenn ich meine Einsatzjacke ablege und eine der Geschichten, die ich erlebe, mit nach Hause nehme, höre ich auf. Denn um professionell helfen zu können braucht es Nähe — aber vor allem auch Abstand.