Krebs in Corona-Zeiten: "Die Therapie hat Priorität"
München - AZ-Interview mit Hendrik A. Wolff: Der Facharzt für Strahlentherapie und Radioonkologie ist Gesellschafter in einer Münchner Praxis.

AZ: Herr Wolff, die Diagnose Krebs bringt Angst und Unsicherheit. Das gilt in Zeiten der Corona-Pandemie umso mehr für Menschen mit geschwächtem Immunsystem. Worauf müssen sie besonders achten?
HENDRIK A. WOLFF: Gerade für meine Krebspatienten ist das ein großes emotionales Problem. Sie müssen täglich den Spagat zwischen einer adäquaten notwendigen Therapie und dem Risiko einer möglichen Ansteckung meistern. Einerseits darf ihre Therapie nicht verzögert werden, andererseits ist jede U-Bahnfahrt, jede Taxifahrt ein zusätzliches Risiko. Sie müssen deshalb individuell schauen, wie sie am besten damit umgehen.
Wolff: Die Tumortherapie hat Priorität
Bislang gibt es keinen Impfstoff gegen Covid-19. Eine schwierige Situation.
Ich kann allen Krebspatienten raten, das Risiko für sich so gut es geht zu minimieren. Das heißt insbesondere: Alle Abstandsmaßnahmen einhalten und immer eine Maske tragen. Deshalb ist es auch so wichtig, dass sich die Personen, die sie umgeben, an die Regeln mit Abstand und Mund-Nase-Schutz halten - das gilt letztlich für die ganze Bevölkerung. Denn: Die Tumortherapie hat Priorität. Auf notwendige Untersuchungen und Behandlungen sollte man keineswegs verzichten, um die eigene Prognose nicht zu verschlechtern. Ich kann Patienten auch beruhigen: Die Praxen und Kliniken sind gut gewappnet und auf die neue Situation gut vorbereitet.
Ist jeder Krebspatient Teil der Risikogruppe?
Das muss man etwas differenzierter sehen, nicht alle Patienten sind am gleichen Punkt. So kann ein laut Definition "onkologischer Patient" schon seit Jahren geheilt und ohne aktuelle Therapie sein oder aber gerade eine hoch dosierte Radiochemotherapie erhalten. Man muss also unbedingt unterscheiden, ob jemand gerade aktiv an einer Therapie teilnimmt oder in der Vergangenheit eine Erkrankung hatte und geheilt ist.
Die Fünf-Jahres-Marke - eine der großen Schallmauern
Ab wann gilt man als geheilt?
Eine der großen Schallmauern ist die Fünf-Jahres-Marke. Fünf Jahre nach einer Behandlung ohne weitere Auffälligkeiten oder Rückfälle gilt man als geheilt. Aber auch diese Personen sollten natürlich wie in den Leitlinien vorgeschlagen weiter zu den Vorsorgeuntersuchungen gehen.
Sind Patienten durch die Einnahme von Krebsmedikamenten besonders gefährdet, sich mit Corona anzustecken?
Durch verschiedene Therapien zur Krebsbekämpfung können der Körper und insbesondere das Immunsystem geschwächt werden. Hierdurch steigt generell das Risiko einer Infektion, auch der Verlauf einer Erkrankung kann schwerwiegender sein. Dieser Zusammenhang gilt allerdings auch für alle anderen Infektionskrankheiten - etwa für eine herkömmliche Grippe. Leider kann eine Infektion während einer laufenden Tumortherapie somit den Behandlungserfolg gefährden.
Wann kann es sinnvoll sein, Therapien zu verschieben?
Bei einer Tumortherapie ist es in den allermeisten Fällen wichtig, dass diese zeitnah begonnen werden und auch planmäßig zu Ende geführt werden. Es gibt aber als Ausnahme zum Beispiel Tumore, die sehr hormonsensitiv sind. In ausgewählten Fällen kann man dann bei Hochrisikopatienten zunächst eine antihormonelle Therapie vorschalten und eine anstehende Strahlentherapie ohne Nachteile verzögern. Die Therapie eines manifesten Tumors sollte man aber nicht auf die lange Bank schieben.
Praxen haben sich auf Patienten mit Covid-19 vorbereitet
Was ist, wenn ein Krebspatient trotz aller Vorsicht an Covid erkrankt?
Hier muss man unterscheiden, ob sich der Patient bereits in laufender Therapie befindet oder eine Therapie beginnen soll. Falls die Behandlung bereits begonnen hat, hängt das weitere Vorgehen sehr von den Symptomen und von dem Verlauf der Infektion ab. Kann die Therapie fortgesetzt werden, so haben wir in der Radiologie und Strahlentherapie München vorgesorgt. Die Mitarbeiter haben eine komplette Schutzausrüstung. Wir arbeiten im Schichtbetrieb, tragen den ganzen Tag Mund-Nasen-Schutz und achten extrem genau auf die Abstandsregeln. Ein infizierter Patient in laufender Bestrahlung würde als Letzter und allein am Abend in die Praxis kommen und könnte risikolos behandelt werden. Falls ein Patient noch keine Therapie erhält, muss eine individuelle Einschätzung der Situation erfolgen.
Wie äußern sich Ihre Patienten rückblickend über die Zeit während der Ausgangsbeschränkungen?
Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Viele Patienten saßen in einer Zeit, in der sie die größte Unterstützung durch ihre Familie oder ihr persönliches Umfeld brauchten, mit einer schweren Diagnose alleine zu Hause. Gerade ältere Patienten haben häufig erzählt, wie extrem sie darunter zu leiden hatten, ihre Enkel oder Kinder nicht sehen zu können. Die Isolation ist ohnehin eine sehr starke Belastung für jeden - insbesondere aber für Tumorpatienten.
Hendrik A. Wolff: "Das Wichtigste ist, dass man miteinander spricht"
Wie kann man als Angehöriger, Freund oder Nachbar eine an Krebs erkrankte Person unterstützen?
Das Wichtigste ist, dass man mit den Erkrankten spricht. Jeder hat andere Wünsche und Nöte. Manche wollen zum Beispiel Hilfe beim Einkaufen, andere freuen sich über ein kurzes Gespräch am Gartenzaun. Glücklicherweise haben die Meisten zusätzlich zum persönlichen Kontakt digitale Medien zur Verfügung, um zu kommunizieren.
Vorsorgetermine sind in den ersten Monaten der Pandemie für viele Menschen ausgefallen. Wie geht es jetzt weiter?
Ich bin der Meinung, dass die leitliniengerechten Untersuchungen sinnvoll sind - auch während der Pandemie. Deshalb sollten die Untersuchungen nicht lange hinausgezögert werden, insbesondere wenn in den Praxen und Kliniken die notwendigen Vorkehrungen getroffen werden.
Welche Folgen hat der OP-Stau für chronisch Kranke?
Es ist publik, dass eine Großzahl der notwendigen OPs verschoben wurde. Diese müssen nachgeholt werden. Im schlimmsten Fall kann es sein, dass ein Tumor eines Patienten in der Zwischenzeit wächst. Je länger ein Tumor wächst, desto schlechter kann die Heilungschance ausfallen. Ähnlich ist die Situation natürlich auch bei chronischen Erkrankungen.
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