Kraillinger Doppelmord: "Hass ist ein gutes Gefühl"

Der Prozess gegen Thomas S. (51) wird zur Belastung für die Angehörigen und Freunde der getöteten Mädchen. Hier spricht ein Experte über die Emotionen und die Rolle der Eltern
AZ: Herr Multhaup, ab Dienstag steht der mutmaßliche Mörder von Chiara und Sharon aus Krailling vor Gericht. Was bedeutet dieser Prozess für die Hinterbliebenen?
THOMAS MULTHAUP: Ihnen wird das Geschehene noch einmal vergegenwärtigt, was sicher sehr schmerzhaft ist. Aber die Angehörigen sehen auch, dass der Täter juristisch zur Verantwortung gezogen wird.
Im Interview: Thomas Multhaup. Der freie Theologe und Autor („Von einem, der da ist, wenn die Seele Trauer trägt“) ist Trauerbegleiter.
Hilft das bei der Trauerarbeit? Kann die juristische Aufarbeitung vielleicht sogar trösten?
Ich glaube nicht, dass sie ein Trost ist. Aber es ist sicher eine Genugtuung, dass dieses Unrecht aufgearbeitet wird, dass es nicht einfach geschehen ist – und nichts passiert.
Wer kümmert sich während des Verfahrens um die Angehörigen der Opfer?
Ich kann nicht sagen, ob das Kriseninterventionsteam noch einmal kommt, oder ob es von Seiten der Justiz eine psychologische Betreuung gibt. Wenn die Eltern in Therapie sind – wovon ich ausgehe –, werden sie in dieser Zeit sicher durch den Therapeuten oder die Therapeutin begleitet. Aber ich glaube nicht, dass da von Amts wegen jemand bestellt ist.
Die Eltern sind Nebenkläger im Prozess. Warum nehmen immer mehr Menschen diese Möglichkeit wahr?
Ich glaube, weil sie die Nebenklage als Weg sehen, selbst aktiv zu werden. In der Hauptklage wird ja der Staat aktiv. Die Nebenklage in diesem Fall bedeutet für die Eltern: Wir selbst tun auch etwas, damit der Mord an unseren beiden Mädchen gesühnt wird.
Die Mutter von Chiara und Sharon wird sich vor Gericht durch ihre Anwältin vertreten lassen.
Ob Hinterbliebene im Prozess erscheinen, hat hat mit der jeweiligen Persönlichkeitsstruktur zu tun. Viele können es nicht. Und in diesem Fall kommt ja noch hinzu, dass der Angeklagte zur Familie gehörte. Ich glaube, dass da die emotionale Gemengelage so durcheinander ist, dass die Frau einfach sagt: Das ist nicht machbar.
Andere Eltern wollten den Mördern ihrer Kinder unbedingt in die Augen blicken. Warum?
Wenn sie den Täter sehen und dabei sind, wie er verurteilt wird, und vielleicht sogar die Gelegenheit nutzen, ihn im Schlusswort direkt anzusprechen, dann hilft das beim Verarbeitungsprozess.
Aber gleichzeitig müssen die Familien ertragen, dass während der Verhandlung jedes noch so grausame Detail der Tat zur Sprache kommt.
Diese schrecklichen Bilder haben die Angehörigen sowieso im Kopf. Ich glaube nicht, dass es wirklich Schmerz vermeidet, wenn sie der Verhandlung fern bleiben. Vermutlich haben auch die Anwälte der Kraillinger Eltern ihren Mandanten die Details im Vorfeld dargelegt.
Kommt es vor, dass Trauer der Hinterbliebenen in Hass auf den Täter umschlägt?
Das geschieht nicht während des Prozesses, sondern vorher. Und es ist eine gute Emotion, wenn ein Betroffener sagen kann: Ich hasse dich für das, was du getan hast. Denn das ist genau, was in ihm vorgeht. Wenn diese Eltern den Täter bis jetzt noch nicht hassen, trauern sie meiner Meinung nach nicht wie andere Menschen.
Hat dieser Hass dann eine kathartische Funktion?
Im besten Fall: ja. Wenn sich so ein Gefühl Bahn bricht – nicht in Form einer Gewalttat, sondern als verbaler Ausbruch –, kann das durchaus eine reinigende Wirkung haben.
Bislang hat der Angeklagte geschwiegen und die Frage nach dem „Warum?” unbeantwortet gelassen. Was bewirkt das bei den Angehörigen?
Es klingt vielleicht lapidar, aber nicht zu verstehen, warum zwei Kinder sterben mussten, macht ihren Schmerz und ihr Unverständnis sicher noch größer.
Angenommen, der Angeklagte würde plötzlich seine Taktik ändern und sich für die Morde entschuldigen.
Die Frage wäre zunächst: Handelt es sich um eine echte Entschuldigung oder um eine, die das Gericht milde stimmen soll? Würde er es ehrlich meinen, würde er vielleicht sagen: Ich habe einen großen Fehler gemacht, unter dem auch ich leide, den ich aber nicht wieder gut machen kann – und ich weiß um euren Schmerz. Etwas in dieser Art. Allerdings ist es unmöglich, damit das Geschehene in irgendeiner Form auszugleichen.
Ist es denn überhaupt möglich, etwas derart Schreckliches zu verzeihen?
Dafür muss derjenige, der von dem Verlust betroffen ist, im Inneren Frieden gefunden haben. Er muss sagen: Ich kann mit der Situation umgehen und weiterleben, auch wenn ich sie nicht verstehe. Erst dann wird eine Entschuldigung möglich sein. Ich halte dieses Szenario allerdings für die große Ausnahme.
Kann ein hartes Urteil den Hinterbliebenen bei der Verarbeitung dieses Schicksalsschlages helfen?
Ein mildes Urteil führt immer zu Unverständnis. Das bedeutet, dass ein hartes Urteil, das an der Grenze des möglichen Strafmaßes liegt, zumindest als Ansatz von Gerechtigkeit empfunden wird. Es zeigt, dass wir in einem Gemeinwesen leben, das sich darum bemüht, einen solchen Verlust so scharf wie möglich zu ahnden. Ich glaube, das hilft tatsächlich zu überleben.
Für Polizei und Justiz ist der Fall mit dem Urteil abgeschlossen. Für die Eltern nicht. Werden sie jemals wieder ein „normales” Leben führen können?
In diesem Fall wird das sehr schwer. Die Eltern sollten sich unbedingt einen Kreis suchen, in dem sich ähnlich Betroffene zusammenfinden: den Weißen Ring oder den Verein „Verwaiste Eltern”. Nur im Freundes- und Bekanntenkreis zu bleiben, wird auf Dauer nicht einfach sein.
Warum nicht?
Weil es nicht adäquat ist. Wie will jemand einen Krebspatienten wirklich verstehen, wenn er kerngesund ist? Wie will jemand, der die Trauer nach dem Verlust eines Kindes nicht kennt, einem Betroffenen auf Dauer helfen, wo er von dessen Schmerz doch keine Ahnung hat? Natürlich ist es wichtig, dass Freunde da sind, aber sie werden mit ihrer Hilfe an Grenzen stoßen. Ich stelle es mir außerdem extrem schwierig vor, im alten Umfeld wohnen zu bleiben. In einem Umfeld, wo mich wahrscheinlich noch in 30 Jahren vieles daran erinnert, was hier mit meinen Kindern passiert ist.
Wie erklärt man Kindern diesen Prozess – und dass sie keine Angst haben müssen, dass ihnen Ähnliches zustößt wie Chiara und Sharon?
Kinder reagieren ja anders, sie sagen vielleicht: Warum schießt man den Typ denn nicht tot? Dann ist es wichtig, ihnen zu erklären, dass wir in einem Gemeinwesen leben, wo es furchtbar ist, wenn jemand den anderen umbringt. In dem wir uns aber auch dafür entschieden haben, dass der Täter vom Gericht so behandelt wird, dass er das nie wieder tun kann. Und Kindern, die Angst haben, kann man sagen, dass ihnen von diesem Menschen keine Gefahr mehr droht. Er ist inhaftiert und wird es sicher – wenn seine Schuld erst einmal bewiesen ist – für viele Jahre bleiben.