Lärm, Müll, Böller – ist Silvester 2023 noch zeitgemäß? Was Experten wie Umwelthilfe, Notaufnahmen und Tierschutzbund davon halten

München - Alle Jahre wieder kommt am 31. Dezember ein wahrer Schauer aus Raketen, Funkenfontänen, Luftheulern, Knallketten und Cracklingwolken auf die Erde nieder. Wo die Menschen sind, ist Feuerwerk. "Feuerwerk gehört zu den schönsten Ausdrucksformen eines friedlichen Miteinanders", so sieht es etwa Thomas Schreiber, der Vorsitzende des Verbands der pyrotechnischen Industrie (VPI). Feuerwerk habe die Kraft, Menschen im gemeinsamen Erleben durch Gefühle zu verbinden.
Und nach dem Ende der Coronapandemie besonders: Schon im vergangenen Jahr wurden mit dem Verkauf von Feuerwerkskörpern, der nur zwischen 29. und 31. Dezember erlaubt ist, gut 180 Millionen Euro umgesetzt, wie der VPI mitteilte. Nachdem die Zahlen wegen der Verbote 2020 und 2021 eingebrochen waren, stand die Industrie damit wieder besser da als vor Covid.

Und an Silvester 2023? Werden die Zahlen nochmal überboten? Ist noch ungewiss. Ein erstes Indiz könnte aber sein, dass in den ersten drei Quartalen des Jahres wieder viel mehr Feuerwerkskörper importiert wurden als im Vorjahr. Das hat das Statistische Bundesamt ermittelt.
Die Hälfte der Menschen in München will ein komplettes Böllerverbot
Dass es mit dem "friedlichen Miteinander" manchmal allerdings nicht so weit her ist, davon könnten auch einige erzählen. Seniorinnen zum Beispiel, denen Lärm und Leuchten zu viel wird, Kleinkinder, Kranke, Wohnungslose oder, könnten sie denn sprechen, auch Haustiere. Bei einer Umfrage unter Leserinnen und Lesern der AZ sprachen sich vergangenes Jahr 50 Prozent für ein absolutes Böllerverbot auf Münchner Stadtgebiet aus. Die war zwar nicht repräsentativ, zeigt aber, dass es eben viele gibt, die wenig vom Silvesterfeuerwerk halten.
Die Münchner Polizei zählte am Neujahrsabend 2022 mehr als 700 Einsätze: tätliche Angriffe, Ruhestörungen, vor Schreck entlaufene Haustiere, daneben natürlich zahlreiche Brände. Mehr als 200 Mal rückten die städtische und die freiwilligen Feuerwehren aus, um etwa brennende Mülltonnen, Hecken oder Zeitungsstände zu löschen, und schon auch mal komplett verqualmte Wohnungen. Rettungssanitäter zählten fast 500 Einsätze.
Unter anderem deshalb schränkt die Stadt das Feuerwerk ein: Zum Beispiel dürfen in der Silvesternacht auf dem Marienplatz, in der Fußgängerzone oder am Viktualienmarkt keine Feuerwerkskörper abgebrannt werden. Bei der Feuerwehr begrüßt man das. Das teilweise Böllerverbot führe dazu, "dass insbesondere die Anzahl von Verletzungen" und Rettungseinsätze reduziert werde, teilt ein Sprecher auf Anfrage der AZ mit.

Am Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität hat man eine Studie durchgeführt, um die Auswirkungen des Böllerns in der Silvesternacht besser fassen zu können. In mehreren Krankenhäusern ergab sich: Wurde wenig bis kaum geböllert wie zum Beispiel 2020 und 2021, kamen auch kaum Verletzte in die Notaufnahmen. 2022 waren diese dann wieder voll, wohl auch, weil die Menschen durch den zweijährigen Verzicht etwas sorgloser und weniger geübt im Umgang mit den Feuerwerks- und Knallkörpern waren.
Beim Feuerwerk gibt es die größte Verletzungsgefahr für Hände, Augen und Ohren
Das klingt an sich wenig überraschend. Ebenso, dass bei den schweren Verletzungen durch Feuerwerkskörper in der überragenden Mehrheit Männer betroffen sind und dass die größten Gefahren beim Böllern für Hände, Augen und Ohren bestehen, wie Elisabeth Haas-Lützenberger im Gespräch mit AZ schildert.
Sie ist Oberärztin an der Abteilung für Handchirurgie und plastische Chirurgie. Es kämen natürlich an Silvester auch Patienten mit Knalltraumata in die Notaufnahme, in der Mehrheit der (sehr ernsten) Fälle handele es sich aber um Notoperationen an den Händen. "Nicht nur in der Nacht vom Jahreswechsel", sagt Haas-Lützenberger. "Schwere Handverletzungen passieren auch in den zwei Tagen danach." Dann etwa, wenn jemand irgendwo einen nicht explodierten Böller findet und dann "sekundär entzündet". Möglicherweise ist eine Zündschnur abgeschnitten, der Böller geht zu schnell hoch, wenn man ihn noch in der Hand hält.
Und gerade wenn die Hand betroffen ist, könne das lebensbeeinflussend sein, sagt die Chirurgin. Weil in einer Hand auf engstem Raum 27 Knochen, Sehnen, Gefäße und Nerven beieinander liegen, kann eben schnell auch sehr viel beschädigt werden. Die Operationen sind hochkomplex, wie Haas-Lützenberger schildert, finden unter einem Mikroskop statt und können fünf Stunden oder länger dauern. Amputationen und Teilamputationen sind zwar sehr selten, hat Haas-Lützenberger aber auch schon erlebt
Häufiger sind leichtere Verletzungen, weiß man an den städtischen Kliniken in München zu berichten. Im vergangenen Jahr seien ebenso Notfälle im Zusammenhang mit Feuerwerk versorgt worden, teilen die Kliniken mit. "Die Kolleginnen und Kollegen aus den Notaufnahmen betonen immer den großen Faktor Alkoholkonsum in dem Kontext", schreibt eine Sprecherin auf AZ-Anfrage. Die Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie und die Gesellschaft für Handchirurgie raten deshalb: "Wenn Alkohol im Spiel ist: Hände weg von Feuerwerkskörpern. Alkohol macht unvorsichtig."
Und ähnlich klingt das auch beim Branchenverband VPI. Der rät auch: Raketen niemals aus der Hand zünden. Keine selbstgebauten Böller verwenden. Aufmerksam die Bedienungsanleitungen der gekauften Produkte lesen. Keine Experimente machen, etwa mehrere Böller gebündelt hochgehen lassen. Auch die Freiwillige Feuerwehr München gibt einige Tipps im Umgang mit Feuerwerkskörpern.
Silvester-Feuerwerk: Minderjährige "können Ausmaß nicht abschätzen"
Und immer auch: Nichts an Kinder oder Jugendliche unter 12 Jahren geben, auch keine Wunderkerzen oder Knallerbsen. Gerade Minderjährige liefen an Silvester Gefahr, sich schwer zu verletzen, erklärt auch Elisabeth Haas-Lützenberger. "Die können das Ausmaß und die Konsequenzen noch nicht abschätzen", sagt sie. Etwa ein Drittel der Patienten an Silvester sei unter 14 Jahre alt.

Damit sollte Verletzungen vorgebeugt sein, doch was ist zum Beispiel mit dem Faktor Umwelt? Der Branchenverband VPI verweist zwar darauf, dass 90 Prozent eines Feuerwerkskörpers aus Altpapier und Holz bestehe und die Entwicklung in Richtung Plastikfreiheit gehe. Aber die Luftbelastung ist doch evident, gerade was Feinstaub angeht.
Daten aus den Messnetzen zeigten, "dass am ersten Tag des neuen Jahres die Luftbelastung mit Feinstaub vielerorts so hoch ist wie sonst an keinem anderen Tag im ganzen Jahr", heißt es in einer Publikation des Umweltbundesamts über den Effekt des Silvesterfeuerwerks auf Mensch und Umwelt. Zeitweise steige die Konzentration auf um die 1000 Mikrogramm Feinstaub an. Die mittlere Konzentration über das Jahr beträgt etwa 15 Mikrogramm.
"Das Einatmen von Feinstaub gefährdet die menschliche Gesundheit", warnt Hanna Rhein, Referentin für Verkehr und Luftreinhaltung bei der Deutschen Umwelthilfe. Die Wirkungen reichten von vorübergehenden Beeinträchtigungen hin zu Atemwegserkrankungen, schreibt sie in einer E-Mail auf Anfrage der AZ. Und gerade an Silvester, denn beim Abbrennen von Feuerwerkskörpern könnten giftige und die Atemwege reizende Stoffe sowie diverse Feinstäube freigesetzt werden. "Es wird sogar vermutet, dass es für Feinstaub keine Schwelle gibt, unterhalb derer keine schädigende Wirkung mehr zu erwarten ist", sagt Rhein.
Auch Tiere leiden unter dem Feuerwerk
Das würde bedeuten: Nur wer gar nicht böllert, geht gar kein gesundheitliches Risiko ein. Freuen würde das sicherlich die Tiere und Haustiere. "Feuerwerk und vor allem das private Böllern ist schon lange völlig unsinnig", sagt Kurt Perlinger, der Vorstandsvorsitzende des Tierschutzbunds München, auf Anfrage der AZ. Er kann viele Nachteile des Böllerns auflisten, nicht zuletzt sei es "für die meisten Tiere der blanke Horror", Haus- wie Wildtiere. Der Tierschutzverein setzt sich schon länger für ein Böllerverbot ein. "Das Geballer braucht wirklich kein Mensch", sagt Perlinger. "Und erst recht kein Tier."
Der Verein empfiehlt Haustierhaltern etwa: Fenster schließen, Rolläden runterlassen. Hunde trösten. Tiere nicht allein lassen. Telefonnummer des Tierarztes parat haben. Wer ein Auto hat, könne dem Feuerwerksstress auch entfliehen, indem er sich mit "Hund rechtzeitig vor Zwölf ins Auto setzt und mit laufendem Radio an einen ruhigen Ort oder einfach auf die Autobahn fährt". Und erst zurückkommt, wenn der "Spuk" vorbei ist. Hilfe, wenn Hund oder Katze an Silvester entlaufen, gibt es bei der Tiersuchhilfe.