Interview

Kostenexplosion bei der Zweiten Stammstrecke: Experte erklärt, wie es dazu kommen konnte

Große Infrastrukturprojekte münden oft in Kostenexplosionen und Bau-Chaos. So auch die Zweite Stammstrecke. Wie kann das im Land der Ingenieure geschehen?
von  Heidi Geyer
Bis die Zweite Stammstrecke endgültig fertig sein wird, wird es immer noch Jahre dauern.
Bis die Zweite Stammstrecke endgültig fertig sein wird, wird es immer noch Jahre dauern. © Foto: dpa

AZ: Herr Nübel, warum scheitern in Deutschland so viele Infrastrukturprojekte?
KONRAD NÜBEL
: Es ist richtig: Deutschland hat einfach Probleme mit Großinfrastrukturprojekten. Ein Grund liegt darin, dass sie für die Politik oft Themen sind, bei denen es schwierig ist, Mehrheiten zu gewinnen. Auch weil solche Projekte einen sehr langen Zeithorizont haben. Und Politik muss meist eher kurzfristig Erfolge erzielen. Ein Beispiel: Wer das Kanalnetz der Stadt München sanieren will, gewinnt damit nicht unbedingt eine Wahl. Es fehlt die direkte Rückkopplung für viele Wähler. Hinzu kommt: Großprojekte werden in Deutschland als ein sehr administrativer Prozess entwickelt. Dabei wird kaum das spätere bauausführende Knowhow in die Planung eingebunden. Es wird oft auch rein nach Preis vergeben und nicht nach Kompetenz, mit entsprechenden Folgen.

Konrad Nübel hat den ‎Lehrstuhl für Bauprozess-Management an der TU München inne.
Konrad Nübel hat den ‎Lehrstuhl für Bauprozess-Management an der TU München inne. © Foto: Andreas Heddergott

"Privatwirtschaftliche Projekte funktionieren anders als öffentliche"

Das ist erstaunlich. In der Automobilindustrie werden in Deutschland komplexe Elektroautos entwickelt. Warum gelingt es der öffentlichen Hand bei Bauprozessen offensichtlich nicht, mit so einer Komplexität umzugehen?
Das ist genau der Punkt und den zeigt auch die Empirie: Öffentliche Projekte weichen weltweit von privatwirtschaftlichen Projekten ab, nicht nur in Deutschland. Bauen ist ein sehr komplexer Prozess, bei dem sehr viele unterschiedliche Beteiligte miteinander arbeiten. In der Automobilindustrie gibt es marktbeherrschende Firmen, die in teilmonopolisierten Märkten die Standards vorgeben. Das macht es natürlich einfacher. Bauen hat hingegen ein sehr flexibles Wertschöpfungsnetzwerk, wo unterschiedliche Beteiligte sehr flexibel zusammenarbeiten können. Da sind gerade viele kleine und mittelständische Firmen, was den Markt sehr flexibel und leistungsfähig macht. Sowohl Stuttgart 21 als auch die Zweite Stammstrecke sind wahnsinnig anspruchsvoll. Um die deutsche Ingenieurskunst ist es also überhaupt nicht schlecht bestellt – nur könnte das Ganze besser organisiert sein.

Sie waren selbst in China am Bau von Hochgeschwindigkeitstrassen für Züge beteiligt. Was können wir von China lernen, ohne unsere demokratischen Werte über Bord zu werfen?
Wir wollen keine autokratischen Strukturen in Deutschland. Aber es gibt dort einen langfristigen politischen Willen. Wie man das in einem demokratischen Kontext umsetzen könnte, zeigt Australien. Im Staat Victoria gibt es eine Organisation, die Infrastruktur sehr langfristig entwickelt. Im Zentrum steht dort der Bedarf der Bevölkerung und von Anfang an werden Bürger beteiligt und befragt. Diese Entwürfe werden dann erst zu einem späteren Zeitpunkt der Politik zur Entscheidung vorgelegt und sind damit unabhängig von Wahlzyklen. Aus meiner Sicht ist das ganz zentral: Wir brauchen stärkere Visionen und Leitbilder, an denen sich Menschen orientieren. Die Frage lautet: Wie wollen wir in Zukunft leben? Derzeit gibt es zudem sehr viele Zielkonflikte, etwa zwischen Wirtschaftlichkeit und Nachhaltigkeit. Man kommt zu klareren Entscheidungen, wenn man solche Themen vorher klärt.

"Die Zweite Stammstrecke ist dringend notwendig"

Was wäre konkret anders?
Bei der Zweiten Stammstrecke hat man wie bei allen Infrastrukturprojekten eine Kosten-Nutzen-Analyse errechnet. Das ist ein standardisierter, vorgeschriebener Prozess. Das Ergebnis lag knapp über eins, also gerade noch wirtschaftlich. Aber in der Realität sehen wir doch, dass es frappierend offensichtlich ist, wie notwendig dieses Projekt ist. Schließlich ist die Stammstrecke dauernd überlastet. Was in diesem Prozess gar nicht abgebildet ist: Was die volkswirtschaftlichen Folgen sind und auch wie sich Stadtviertel dadurch komplett verändern. Das ist auch überhaupt nicht einberechnet.

Welche Rolle spielt die Bahn bei so großen Projekten? Ist die Rolle des Buh-Mannes der Nation gerecht?
Die Bahn ist natürlich ein großer Entwickler von Infrastruktur und tut das mit viel Mühe und Anstrengung, um besser und moderner zu werden. Aber es wirkt sich aus, dass die Bahn eben ein politisch sehr stark beeinflusster Konzern ist. Da sind oft politische Agenden wichtiger als die langfristige Entwicklung.

Eine gute IT kann viel bewirken

Wie ist Ihr Eindruck - ist der neue Deutschland-Takt bei den LNG-Terminals gelungen?
Ja, definitiv. Man hat das auch im Ausland sehr stark so wahrgenommen, dass Deutschland mit einer hohen Geschwindigkeit bauen kann. Mancher wird sich gewundert haben (lacht).

Welche Rolle spielt Digitalisierung? Werden Infrastuktur-Projekte dadurch noch komplexer?
Die IT kann sehr viel beitragen, um die Komplexität zwischen den einzelnen Beteiligten zu mindern, etwa indem Daten viel schneller ausgetauscht werden. Ich sehe das als riesige Chance, die man aber in die richtige Richtung lenken muss.

"Deutschland muss mit mehr Systemausfällen rechnen"

Wie blicken Sie in die Zukunft bei Deutschlands Infrastruktur?
Ich sehe das kritisch. Es muss einen richtigen Ruck geben. Das ist ein essenzielles Thema und eine Grundlage unserer Gesellschaft. Die Situation bei uns ist kritisch, das zeigen auch internationale Vergleiche. Wir haben derzeit eine funktionierende Infrastruktur, aber es ist zu bemerken, wie sich das abwirtschaftet. Wir müssen mit mehr Systemausfällen rechnen.


Konrad Nübel arbeitet an der TU München am Lehrstuhl für Bauprozessmanagement. Davor war er für verschiedene Unternehmen in der Baubranche tätig.

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