Kontrolliertes Trinken
In einem besonderen Gruppen-Kurs des Beratungszentrums Tal 19 ringen zwölf Münchner mit dem Promille-Teufel. Und Sie können sich hier auch selbst testen: Wie abhängig sind Sie?
Ihren ersten Rausch hatte Anna (alle Namen geändert) mit 15. „Das war damals nichts besonderes“, sagt sie. Dass ihr Vater Alkoholiker war, schreckte die Münchnerin nicht ab. „Wenn er mal wieder trocken war, gab’s daheim keinen Alkohol. Also hat man beim Ausgehen umso mehr getrunken.“ Später arbeitete Anna als Elektroassistentin in verschiedenen Betrieben und stieß eifrig mit den Kollegen an. „Es wurde ständig irgendwas gefeiert“, erinnert sie sich. „In einer Firma gab es sogar den Brauch: Wer in der Früh zu spät kommt, gibt eine Runde Schnaps aus.“ Heute ist Anna 60, in Rente, Witwe und ganz allein. Nur eine Cousine in der Ferne ist geblieben – und ihr geliebter Wein. Drei Gläser braucht Anna um einschlafen zu können und die Einsamkeit nicht mehr zu spüren. Jeden Abend. Zwanghaft. Damit soll jetzt Schluss sein. Deshalb besucht Anna seit kurzem ein „Ambulantes Gruppenprogramm zum selbstkontrollierten Trinken“ (AkT).
Der Unterschied zwischen Alkohol-Abhängigkeit und -Missbrauch
„Unser Angebot richtet sich an Leute, die ihren Konsum reduzieren wollen, ohne von vornherein ganz auf Alkohol zu verzichten“, erklärt Barbara Schielein. Die Sozialpädagogin leitet AkT-Kurse am Beratungs- und Therapiezentrum Tal19 in München.
Im Fokus stehen Menschen, die zu viel trinken, aber nicht süchtig sind. Die Grenze ist manchmal schwer zu ziehen. „Vereinfacht ausgedrückt ist eine Abhängigkeit dann gegeben, wenn das Suchtmittel stärker ist als der eigene Wille, ich also das Gefühl habe, das Mittel beherrscht mich“, sagt Barbara Schielein. 1,5 Millionen Deutsche sind alkoholabhängig.
„Suchtgefährdung hingegen liegt vor, wenn ich den Eindruck habe, das Mittel entgleitet meinem Einfluss. Es hat mich noch nicht ganz im Griff, ist aber stärker, als ich mir das für mich wünsche.“ 5,8 Millionen Bundesbürger praktizieren einen gesundheitlich riskanten Konsum. 2,4 Millionen der 18- bis 59-jährigen betreiben Alkohol-Missbrauch. Das heißt, sie trinken mehr als die von der WHO als unschädlich eingestufte tägliche Menge von o,5 Liter Bier (oder einem Glas Wein) bei Frauen und zwei Halben bei Männern.
"Auch wenn ich nicht will, treibt mich etwas dazu, zum Bier zu greifen"
Zwölf von ihnen treffen sich dienstags mit Barbara Schielein. Auf ein Einzelgespräch folgte die erste Gruppensitzung mit Grundinformationen über der Zerstörungskraft des Nervengiftes. Die Teilnehmer erhielten ein „Trinktagebuch“, in dem sie notieren, wann sie wie viel trinken, in welcher Stimmung und in welcher Situation. „So wird die Wahrnehmung für den Konsum geschärft“, sagt Schielein. Der erste Schritt zur Besserung.
Dann legte jeder einzelne sein Ziel fest, eine Vorgabe gibt es dabei nicht. Franz beschloss: „Ich muss wieder dahin kommen, dass ich an manchen Tagen ins Bett gehe und nur einen Kräutertee zu mir genommen habe.“ Der 64-Jährige verdient sein Geld im IT-Bereich und ist Gewohnheitstrinker. „Ich trinke jeden Abend Bier. „Am liebsten auf der Couch und am liebsten Triumphator.“ Irgendwann hat Franz festgestellt: „Auch wenn ich nicht will, treibt mich etwas dazu, zum Bier zu greifen.“ Diesen Automatismus will er jetzt brechen. In der vergangenen Woche hat Franz schon vier „Abstinenztage“ geschafft – „aber es war ein immerwährendes Bemühen“.
Auch Dieter ringt tapfer mit dem Promille-Teufel. Der 34-jährige Unternehmensberater schluckt seit Teenager-Tagen. „Das hat mit dem klassischen Party-Trinken angefangen: zwei bis drei Bier, ein Schnaps, manchmal noch Wein, da mischte sich schon einiges“, sagt er. Dann ging es bei Geschäftsessen weiter, oder abends im Hotel. Um abzuschalten oder aus Langeweile. Als er sich im Job nicht mehr konzentrieren konnte und seine Leberwerte in die Höhe schossen, meldete sich Dieter beim AkT an. Sein Wunsch: „Ich will drei Mal in der Woche kontrolliert trinken und an vier Tagen überhaupt nicht.“
Manchen helfen Tee oder Fruchtsaft
Der Austausch mit anderen Betroffenen hat Anna, Franz und Dieter sehr geholfen. „Ich habe hier gelernt, dass ich kein Exot bin“, sagt Franz. Vorher hatte er nur seine Ehefrau eingeweiht. Im Freundeskreis des leidenschaftlichen Musikers war Alkohol-Missbrauch nie Thema. „Aber es tut gut zu wissen, dass da Leute sind, die am gleichen Ende kämpfen wie man selbst.“
Die sechs Frauen und sechs Männer machen sich gegenseitig Mut. In Rollenspielen lernen sie „Nein“ zu sagen. Etwa, wenn ein Kollege ihnen auf dem Christkindlmarkt einen Glühwein anbietet. „Das ist für manche ungeheuer schwierig. Deshalb trainieren wir die Selbstkontrolle“, erklärt Pädagogin Schielein. Gemeinsam erarbeiten sie und die Teilnehmer außerdem Lösungsmöglichkeiten, um die Trinkgewohnheiten zu brechen. Schielein: „Manchen hilft es, wenn sie erst ab 18 Uhr zum Glas greifen, andere steigen auf Alternativgetränke um.“ Tee, Fruchtsäfte und Kaffee seien sehr beliebt.
Bis zu 60 Prozent der AkTler schaffen es laut Schielein, ihren Konsum deutlich zu reduzieren. Für durchschnittlich ein bis zwei Teilnehmer endet das zehnwöchige Training mit der Erkenntnis, besser ganz auf Alkohol zu verzichten, eventuell im Rahmen einer Abstinenz-Therapie. Diesmal könnte Anna dazu gehören. Sie hat sich vorgenommen, nur noch ein Glas Wein pro Tag zu trinken. „Aber wenn ich lange telefoniere, da reicht das einfach nicht – ich weiß auch nicht, warum“, sagt sie und schaut zu Boden. „Es wäre wohl besser, ganz aufzuhören.“ Denn eins weiß Anna heute, 45 Jahre nach dem ersten Schluck, genau: Enden wie ihr alkoholkranker Vater möchte sie nicht.
Den nächsten AkT-Kurs (353 , Kassenzuschuss möglich) bietet Tal 19 vom 21.Januar bis zum 25.März, mittwochs 17.30 – 19.45 Uhr, an. Infos erteilt die Suchthotline: Tel.089/282822. Hintergründe unter www.kontrolliertes-trinken.de.
Natalie Kettinger