Interview

"Kompletter Schockzustand": Soldatin aus München spricht über Krieg in Israel

Die Deutsch-Israelin Shir B. lebt seit acht Jahren in Israel. Im Interview spricht die Soldatin aus München über Ängste und warum sie dennoch bleibt.
von  Anne Wildermann
Die Ausbildung beim israelischen Militär hat die gebürtige Bayerin von 2016 bis 2018 absolviert. Sie ist vorwiegend im nördlichen Teil des Landes gewesen.
Die Ausbildung beim israelischen Militär hat die gebürtige Bayerin von 2016 bis 2018 absolviert. Sie ist vorwiegend im nördlichen Teil des Landes gewesen. © privat

Tel Aviv - Für sie war es selbstverständlich zum israelischen Militär zu gehen. Doch der Krieg hat die Soldatin – genauso wie das komplette Land – in einen Schockzustand versetzt. Die AZ hat mit der Deutsch-Israelin Shir B. über die aktuelle Lage in Israel gesprochen.

AZ: Frau B., wie geht es Ihnen?
SHIR B.: Mir geht es im Moment nicht gut. Seit dem 7. Oktober sind wir Israelis im kompletten Schockzustand, haben es noch nicht ganz verarbeitet, was passiert ist. Unsere Realität wurde auf den Kopf gestellt. Physisch geht es mir allerdings gut.

Wie sieht Ihr Alltag aus?
In der ersten Woche nach dem Terror-Angriff war ich im Schockzustand, ich konnte nicht bei PayPal im Kundenservice arbeiten. Mein Arbeitgeber hat gesagt, wenn ihr arbeiten wollt, könnt ihr das zur Ablenkung tun. Wenn nicht, auch kein Problem. Ein anderes, ausländisches Team hat dann ausgeholfen. An manchen Tagen habe ich mir freigenommen, um Freiwilligen-Hilfe zu leisten. Seit mehr als einer Woche bin ich wieder in der Normalität angekommen, habe angefangen, Anrufe von Kunden entgegenzunehmen und zu beantworten. Es ist trotzdem noch ein komisches Gefühl.

Fühlt sich diese Normalität gut oder schlecht an?
Ich bin zwiegespalten. Einerseits müssen wir zur Realität zurückkehren. Sie ist auch Teil der Terror-Bekämpfung, man sagt: "Wir haben keine Angst. Wir lassen uns davon nicht unterkriegen! Zeigen, dass wir stärker sind als das, was uns passiert ist." Andererseits ist es absurd, zu wissen, dass viele Freunde als Soldaten kämpfen, Familien ihr Haus verloren haben. Am schlimmsten ist, dass all die Geiseln im Gaza-Streifen festgehalten werden. Aber wir müssen trotzdem stark sein. Es ist auch gut für die eigene Psyche, an einer gewissen Normalität festzuhalten.

"Liebe dieses Land": Soldatin aus München will in Israel bleiben

Sie haben in München Abitur gemacht, sind dann zum Militärdienst nach Israel, statt wie Gleichaltrige mit dem Rucksack Asien zu erkunden. Warum?
Ich bin einem Haus aufgewachsen, wo beide Eltern Israelis sind. Wir sind nach Israel immer in den Urlaub geflogen, ich bin mit der Kultur aufgewachsen. Für mich war es selbstverständlich, weil ich mich als Israelin fühle, dass ich zum israelischen Militär gehe. Ich habe mich in Israel immer geborgen gefühlt, ich habe hier Familie, Freunde und viel Spaß. Ich liebe dieses Land! Warum sollte ich es nicht mit beschützen?! Es ist das Land, wie wir es nach dem Holocaust bekommen, aufgebaut haben. Für mich gehört es dazu, dass ich mit anpacke. Natürlich war es auch ein Abenteuer für mich. Es ist auch cool, wenn man sagen kann, dass man beim Militär war. (lacht)

Aktuell sind Sie nicht in Kämpfe involviert. Könnte das morgen der Fall sein?
Das kann auf jeden Fall passieren. Theoretisch: Wenn ich jetzt gefragt werden würde, ob ich kommen könnte, dann würde ich auch gehen. Wegen persönlicher Gründe bin ich bisher nicht im Einsatz. Mein Mann Geva leidet wegen seines ehemaligen Militärdienstes unter einer posttraumatischen Belastungsstörung. Die gesamte Situation belastet ihn sehr, er arbeitet und es geht ihm zurzeit auch gut, dennoch würde ich ihn ungern allein lassen. Aber wenn es nicht anders ginge, würde ich alles stehen und liegen lassen. Da denken wir alle gleich: Wenn wir wirklich müssen, dann gehen wir auch.

Freunde an Front im Gazastreifen stationiert

Hätten Sie keine Angst vor dem Ungewissen?
Immer. Es ist bei uns allen ein dauerhafter, allgemeiner Angstzustand. Glücklicherweise gehöre ich zu einer administrativen Abteilung, habe während meiner Militär-Ausbildung Auslandsbeziehungen gepflegt, hatte Kontakt mit UN-Soldaten an der libanesischen Grenze. Ich habe mehr Angst um meine Freunde, die an der Front, im Gaza-Streifen sind. Ich mache eher Dinge im Hintergrund, die dennoch nicht unwichtig sind. Ich würde nicht in Tel Aviv bleiben, sondern mehr in Richtung Risikogebiet geschickt werden.

Ihre 22-jährige Schwester Shani war ebenfalls beim Militär, ist aktuell im Einsatz und studiert nebenbei Psychologie. Was muss sie vor Ort machen?
Sie ist im Reserve-Dienst im Landeszentrum tätig. Ihre Aufgabe ist es, die Zivilbevölkerung im gesamten Land zu beschützen, auch die, die an den feindlichen Grenzen lebt. Ich muss mich nicht die ganze Zeit um sie sorgen. Für sie ist es gut, dass sie dort ist, dass sie während des Kriegs helfen kann.

Ein Foto aus unbeschwerten Tagen: Shir (l.) mit ihrem 31-jährigen Mann Geva und ihrer Schwester Shani am Tag der Trauung diesen Juni.
Ein Foto aus unbeschwerten Tagen: Shir (l.) mit ihrem 31-jährigen Mann Geva und ihrer Schwester Shani am Tag der Trauung diesen Juni. © privat

Rückkehr nach Deutschland würde "depressiv" machen

Warum kehren Sie nicht mit Schwester und Ehemann nach Deutschland zurück? Im Hinblick auf seine posttraumatische Belastungsstörung.
Mein Mann will in Israel bleiben, und sowohl meine Schwester als auch ich. Wir gehören dazu. Meine Schwester und ich sind hergezogen, um ein Teil dieses Landes zu sein. Wir sind nicht hergekommen, um Besucher zu sein. Wenn es mal ein paar schlechtere Tage gibt, heißt das nicht, dass wir wegrennen. Ich glaube, meine Eltern in Deutschland sind besorgter als ich. Es würde mir nicht viel bringen, nach Hause zurückzukehren. Es würde mich depressiv machen, wenn ich dort wäre. Ich würde mir Sorgen machen, weil ich nicht weiß, was in Israel los ist.

Wie ist die Stimmung bei der israelischen Bevölkerung aufgrund der Kampfpause zwischen der Hamas und dem israelischen Militär? Es sollen insgesamt 300 palästinensische Häftlinge gegen 100 Geiseln ausgetauscht werden.
Ich freue mich, dass einige der Geiseln freikommen. Es ist schwierig, dass wir nur 100 Geiseln zurückbekommen und dafür erstens eine Kampfpause machen und zweitens terroristische Häftlinge entlassen müssen. Die Relation stimmt nicht. Ich bin ehrlich: Wir wissen nicht, ob sie noch leben. Und dann sind immer noch mehr als 150 weitere Geiseln im Gaza-Streifen.

Sie sind auch Deutsche. Wie geht es Ihnen, wenn Israelis sagen: "Die Deutschen sind Antisemiten?"
Es ist unangenehm. Letztlich gab es in Deutschland immer Antisemitismus. Ich habe ihn als Kind nicht viel erfahren oder ich habe ihn ignoriert, verdrängt. Ich bin nicht überrascht, dass er wieder vermehrt aufkommt, aber dass er so offen sein Gesicht zeigt. Er war schon immer da, Deutschland hatte ihn bisher gut unter Kontrolle. Nur gibt es offenbar jetzt eine Legitimation, ihn offen zu zeigen. Deutschland muss noch mehr aufklären, informieren, die Menschen bilden. Ich glaube, auch Dialoge sind gut, um sich besser kennenzulernen. Antisemitismus kommt auf, wenn man nicht weiß, was es bedeutet, jüdisch zu sein. Juden sind Menschen wie jeder andere auch.

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