Kirchentag: Der Himmel hat Erbarmen

MÜNCHEN - Zu Beginn des Kirchentags strömen Hunderttausende auf die Theresienwiese und zum Abend der Begegnung – und es regnet nicht!
Ein kollektives Murmeln erfüllt den Marienplatz. „Vater Unser im Himmel“, sprechen tausende Menschen im Chor, „geheiligt werde dein Name...“ Ihr Blick ist auf die Bühne gerichtet, geschmückt mit bunten Luftballons, drei weißen Kerzen und einem schlichten Holzkreuz.
Überall in der Altstadt geben am Mittwochabend Gottesdienste den Startschuss zum zweiten ökumenischen Kirchentag; der größte findet auf der Theresienwiese statt. Landesbischof Johannes Friedrich und Reinhard Marx reden, der Münchner Erzbischof geht auch auf die Skandale ein: „Die Kirchen sind Träger der christlichen Hoffnung. Deshalb wiegt es umso schwerer, dass Amtsträger der Kirche die Hoffnung von Menschen enttäuscht haben.“
Auch Bundespräsident Horst Köhler spricht, ermutigt die Gläubigen: „Viele dunkle Wolken haben sich in den vergangenen Monaten über der Kirche zusammengezogen“, sagt er, „dieser Ökumenische Kirchentag kommt zur rechten Zeit.“ Die dunklen Wolken hängen ganz real bedrohlich am Himmel – denn jetzt ist es Zeit für den Abend der Begegnung, das riesige Straßenfest. Massen strömen in die City. Sie tragen Rucksäcke und Saftschorlen, um den Hals gewickelt den orangen Schal: „Damit ihr Hoffnung habt“, ist darauf gedruckt.
Rund um den Altstadtring stimmt das Fest die 300000 Besucher auf das Kirchentreffen ein. Konzerte, Stände, Zelte und Biertische zur Rast. „Möchten Sie ein Programm?“ fragt ein Mädchen in Pfadfinderuniform und drückt Passanten Faltpläne in die dankbaren Hände.
Am Marienplatz führt jetzt die Trachtengruppe Otterfing Tänze auf. Aus ganz Bayern sind Trachtler angereist, um den Gläubigen ihr Brauchtum nahe zu bringen. In einem der Zelte entlang der Kaufingerstraße brennt Feuer: „Wir wollen hier Stockbrot rösten“, sagt Susanne und schiebt einen Scheit nach. Es ist das Zelt der Pfadfinder.
„Bitte machen Sie mit!“, steht auf dem Schild über der Trommlergruppe wenige Schritte weiter, um die eine Traube Menschen steht. Im Kreis sind Stühle aufgestellt, jeder kann sich Rassel, Trommel oder Tambourin schnappen und den Rhythmus schlagen: Bum, Bum, Bu-Bu-Bum! Erst als sie Pause machen, hört man die Pfarrerin wieder, die daneben Drehorgel spielt. Sie sammelt Spenden für die Kinder von Haiti.
Eine „Sonnenterrasse“ ist zwischen Marienplatz und Stachus aufgebaut, darüber grinsen die Besucher. Nach wie vor beten alle, dass der Regen den Abend der Begegnung verschonen möge. Unter der Terrasse verkauft eine Bäckerei ihre Waren, die Leute ziehen ihre Saftschorlen aus den Rucksäcken und machen Pause. Viele Jugendliche sind darunter, sie streifen in Gruppen über das Altstadtfest, haben sich die Schals um den Kopf gebunden oder Kerzen hinter die Ohren gesteckt und genießen den Trubel.
Vor dem Karlstor schieben sich die Christen eine Treppe ins Nirgendwo hinauf. Und wieder hinunter. Es ist die Zugspitze: Symbolisch erklimmen sie den „Gipfel“, oben gibt’s als Andenken einen kleinen Karabinerhaken. An anderen Punkten der Stadt sind der „Große Arber“ und die „Trettachspitze“ zu erklimmen.
Am Fuße der Zugspitze will eine Ausstellung in einer aufblasbaren Kirche die Bibelkenntnisse der Besucher auffrischen, am Stachus tanzt eine brasilianische Jugendgruppe auf der Bühne.
Polizisten sagen durch: „Es ist grün für die Autos, bitte stehen bleiben!“ Einzelne Wagen werden durch den Fußgängerstrom über den Lenbachplatz geschleust. Gottes Schäfchen trotten dicht gedrängt an den Essensständen vorbei: „Noch viel Spaß und Guten Appetit!“, wünscht eine Verkäuferin, bevor sie die nächste Portion Thai-Curry auf den Teller klatscht. Kirchen geben Essen aus und Jugendgruppen, Döna Bavaria und Steaksemmeln, Schupfnudeln, Kuchen und Muffins.
Über die Brienner Straße läuft eine Polonese-Schlange. Am Odeonsplatz rockt Claudia Koreck: „Ihr seid’s so gut drauf, des gfreit mi“, strahlt die blonde Sängerin, winzig klein unter dem riesigen Kreuz auf der Bühne, und schmettert los: „I will nur das’d wiada hoam kimmst.“ Das Publikum hüpft.
Am Marienhof ist es dunkel. Auf der Bühne spielt ein junger Mann Gitarre und rührt mit seiner samtweichen Stimme. Die ersten Menschen zünden ihre Kerzen an.
Um 22.25 Uhr brennen sie alle, die schlanken weißen Kerzen in den Händen der Kirchentagsgänger. Der Himmel hatte Erbarmen und die Regenwolken weiter ziehen lassen. Der Marienplatz, ein Lichtermeer, aus dem das „Vater Unser“ murmelt. Verliebt lächelnd lehnt eine junge Frau den Kopf an die Schulter ihres Liebsten. Die Menge löst sich langsam auf, schiebt Richtung Bahn und heim. Ein struwwelhaariger Halbstarker mit Kirchentag-Schal erklimmt einen Stromkasten und schreit: „Jesus ist mit euch allen!“ Eine ältere Dame bleibt stehen und grinst. „Mit dir auch.“
Laura Kaufmann