Kindermörder von Krailling: Sein Leben im Knast
Der Fall sorgte bundesweit für Aufsehen: Vor gut drei Jahren hat Thomas S. seine Nichten Chiara (8) und Sharon (11) in Krailling getötet. Er wurde wegen Mordes verurteilt und sitzt seitdem in Landsberg ein – mindestens für die nächsten 20 Jahre. Ein AZ-Reporter hat ihn dort getroffen. Und obwohl zahllose Indizien gegen Thomas S. sprechen und die Beweislage eindeutig war, behauptet der 53-Jährige immer noch, er sei unschuldig
München/Landsberg - Der Mann trägt ein einfarbig blaues Anstaltshemd. Seine üppig wuchernden Haare sind fast grau, ebenso sein Bart. Er ist kräftig gebaut, hat einen genauso kräftigen Händedruck. Die leichte Unsicherheit beim Treffen mit dem AZ-Reporter lächelt er weg.
Ortstermin in der Justizvollzugsanstalt Landsberg am Lech. Mit einem Häftling, dessen Prozess bundesweit für Aufsehen sorgte. Thomas S. (53) wurde vor zwei Jahren wegen eines brutalen Gewaltverbrechens verurteilt: Er wurde schuldig gesprochen, am 24. März 2011 seine Nichten Chiara (†8) und Sharon (†11) aus Krailling ermordet zu haben.
Die Prozedur bis zum Treffen mit dem verurteilten Doppelmörder ist vergleichsweise simpel. Franz F. (Name geändert), ein alter Bekannter von Thomas S., hat den Kontakt hergestellt.
Er ist der Einzige, der den Ex-Postboten aus Peißenberg im Knast besucht. Er hat festgestellt: Der Verurteilte will reden. Er will seine Version des grausamen Verbrechens darstellen. Er will auf vermeintliche Fehler bei der Beweisaufnahme, bei den Gutachten, im Prozess aufmerksam machen.
„Es geht um die Wahrheit“, ist einer der ersten Sätze des Häftlings.
Zuerst hatte Franz S. einen Besuchsantrag in die Redaktion geschickt. Der wurde innerhalb weniger Tage von der Gefängnisleitung genehmigt, Thomas S. hat den Termin telefonisch bestätigt.
Und jetzt stehen wir an der Pforte der Justizvollzugsanstalt. Am Empfang geben wir unsere Ausweise ab und bekommen einen Schlüssel für ein Schließfach. Dort deponieren wir Schlüssel, Handys, Fotoapparat – drinnen alles verboten.
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Die Beamten am Eingang öffnen die Tür zum Schleusenraum. Dann lässt uns ein weiterer Beamter in die „Cafeteria“. Nach einem Sicherheitscheck sind wir drin.
Was ist dieser Thomas S. für ein Mensch? Polizei, Gutachter, Staatsanwälte, Richter und sogar seine Angehörigen sind überzeugt davon, dass er aus niedrigen Beweggründen, aus Habgier, seine Nichten erdrosselt, erstochen und erschlagen hat. Dass ihm das Leben von zwei Mädchen nichts gilt, dass er Unvorstellbares getan hat.
Es ging um das Erbe seiner Frau und deren Schwester, der Mutter der beiden ermordeten Mädchen, es ging um Immobilien. Thomas S. hatte wegen seines Hausbaus Schulden. Durch den Mord wollte er sich finanziell Luft verschaffen – sagten die Ankläger. Die Richter schlossen sich dieser Meinung an.
Gegen Thomas S. sprechen zahllose Indizien. Die Tatwaffen gehörten zum Teil ihm, zum Teil waren seine Fingerabdrücke drauf. An vielen Stellen in der Kraillinger Mord-Wohnung wurden sein Blut und seine DNA sichergestellt.
„Die Beweislage ist eindeutig“, hat der Staatsanwalt in seinem Plädoyer gesagt. Die Richter sahen es genauso, sie verurteilten den 53-Jährigen zu lebenslanger Haft. Und attestierten die besondere Schwere der Schuld.
Thomas S. führt uns an einen von zehn unterschiedlich großen Holztischen im Besuchsraum der Justizvollzugsanstalt. Der Vierertisch ist ziemlich klein, er ermöglicht engen Kontakt und eine diskrete Unterhaltung.
Der Raum ist schlicht eingerichtet. Ein Justizvollzugsbeamter thront auf einem kleinen Podest in der Ecke und beobachtet die Häftlinge und ihre Besucher, darunter auch einige Kinder.
An einer Wand steht ein Getränkeautomat. „Jedes Getränk 50 Cent“ steht auf einem Schild. Franz F. spendiert eine Runde Limo, das Geld dafür hat er vorher dem Beamten am Einlass gezeigt.
In einer Ecke des Raums hängt über einem langen Tisch mit Plexiglas-Abtrennung in der Mitte ein Piktogramm. Es zeigt zwei Menschen, die sich mal aufrecht, mal zueinander hingeneigt unterhalten. „Richtig“ und „Falsch“ steht als Erklärung dabei.
Richtig für die Angehörigen der ermordeten Mädchen und für die Ex-Frau von Thomas S. ist die Tatsache, dass der wahre Täter hinter Gittern sitzt. Nachts liegt er in einer Einzelzelle, tagsüber macht er, wie er es beschreibt, eine „Halbdepperl-Arbeit“: Er entfernt überschüssige Gummiränder von Zubehörteilen für die Automobilproduktion.
70 Euro bekommt er dafür pro Monat. 20 Euro kostet die Miete für den Fernseher. Den Rest des Geldes verbraucht der Diabetiker für ungesunde Sachen, für Süßigkeiten. Weil „das Essen in Landsberg wirklich nicht gut ist“, wie er sagt.
Als Schwerverbrecher darf der Verurteilte nicht auf den außerhalb des eigentlichen Gefängnisareals gelegenen Sportplatz – auch das ist ein Grund dafür, dass er in Landsberg wieder die rund 100 Kilo wiegt, die er schon bei seiner Festnahme am 1. April 2011 auf die Waage brachte.
In der U-Haft hatte er abgenommen – etwa durch Muskel-Training mit wassergefüllten 1,5-Liter-Plastikflaschen.
Raus aus dem Knast kommt Thomas S. frühestens in 20 bis 23 Jahren – „wenn ich die Tat zugeben würde“. Aber er hat von Anfang an seine Unschuld beteuert. Und das will er auch weiter tun.
Die Konsequenz? „Da hinten ist der Friedhof.“ Er zeigt mit einer Hand hinter die dicken Knast-Mauern.
Doch der verurteilte Doppelmörder glaubt weiter an ein Leben in Freiheit. Er will eine Wiederaufnahme des Verfahrens erreichen. Er ist überzeugt, dass die Gutachten des Gerichtsmediziners zu den DNA-Spuren, die entscheidend für seine Verurteilung waren, nicht korrekt sind. „Es hat fünf Minuten gedauert, bis ich den ersten Fehler gefunden habe“, sagt er. „Insgesamt sind ungefähr 200 Fehler im DNA-Gutachten. Wenn es stimmen würde, wäre ich eine Frau.“
Er behauptet: „Alle DNA-Spuren, die mich überführt haben, sind weiblich. Also bin ich entweder eine Frau – oder es wird absichtlich getäuscht.“
Im Prozess seien „katastrophale Fehler“ gemacht und sogar „Gutachten gefälscht“ worden. Eine für ihn logische Erklärung hat er dafür auch: „Die brauchten einen Täter.“
Thomas S. spricht viel in den knapp eineinhalb Stunden Besuchszeit. Er flüchtet sich in beißenden Sarkasmus, wenn seine Anspannung und seine Empörung über das Urteil zu groß werden. Er redet über die Gerichtskosten, die er bezahlen soll, weit über 200 000 Euro. Und er schildert sich als einen, dem immer das Wohl seiner Frau und seiner vier Kinder wichtig gewesen seien. Auch wenn das in seinem Umfeld immer ganz anders dargestellt worden sei.
Worüber er nicht spricht bei diesem Besuch und worüber er auch vor zwei Jahren in der Gerichtsverhandlung nicht gesprochen hat, ist das Leiden der Opfer. Chiara und Sharon kommen in Thomas S.’ Schilderungen durchaus vor. Etwa bei seiner Einschätzung des von Polizei und Sachverständigen rekonstruierten Tatablaufs.
Aber ausschließlich sachlich, total unpersönlich.
Er spricht nicht von ihnen als fröhliche, hübsche Mädchen, deren grausames Schicksal bei allen, die mit diesem Verbrechen zu tun hatten, Entsetzen auslöst – und Mitgefühl.
Die Besuchszeit ist um, der Wachbeamte kontrolliert Seite für Seite die Notizen im Reporter-Block, er kann offenbar nichts Verbotenes entdecken. Ein Händeschütteln, eine kurze Umarmung mit seinem Bekannten Franz F.: Der verurteilte Doppelmörder schaut uns nach, als wir aus der Tür gelassen werden.
„Das ist jetzt mein Kampf“, hat er während des Gesprächs gesagt. Er meinte das Wiederaufnahme-Verfahren.