Kinder zu laut: Familienvater soll ausziehen
Rund 4500 Menschen leben in der „Amisiedlung“: verkehrsarm, direkt am Perlacher Forst, perfekt für Kinder. Wirklich? Ganz kinderfreundlich geht es nicht immer zu. Zumindest nicht im Fall von Stephan S. (42): Ihm wurde fristlos gekündigt – weil seine Kinder zu laut sind.
„Was die Mitmieter machen, ist pures Ausspionieren“, sagt Anwältin Lisa Matuschek über die Situation ihres Mandanten: Seit Monaten führen dessen Nachbarn Lärmprotokolle, in denen sie sämtliche Geräusche festhalten, die sie von S. und seinen beiden Kindern hören. „Minutiös“, sagt S: „Jede Lebensäußerung wird dokumentiert.“
Dabei wohnen die Kinder, sechs und zehn Jahre alt, gar nicht ständig in der Dachgeschosswohnung ihres Vaters. Ihre Eltern sind geschieden, sie leben mit ihrer Mutter in einer anderen Wohnung der Siedlung. Einmal die Woche und jedes zweite Wochenende sind sie bei S.
2010 fängt der Ärger an. Anfangs, erzählt S., kommen die Nachbarn noch hoch. Zwei Eheleute, beide Ende 40, wohnen unter ihm im zweiten Stock. Sie sind kinderlos. Einmal sei die Situation fast eskaliert, sagt Stephan S.: „Sie musste ihn abhalten, dass er mir nicht an die Gurgel geht.“
Über Monate führen sie Lärmprotokolle, der Vermieter stellt sie regelmäßig zu. „Andere Nachbarn wurden von ihnen mit angestachelt“, vermutet S.
Seinen ganzen Tagesablauf protokollieren die Nachbarn, und halten das fest, was sie hören oder glauben zu hören: Die Kinder würden ans Treppengeländer treten, gegen die Heizung schlagen, ständig Sachen werfen und Möbel rücken.
Natürlich ermahne er die beiden stets, leise zu sein. „Aber wenn der Kleine spontan vorbeikommt und sich freut, dass er den Papa sieht, rennt er die Treppen rauf, anstatt brav langsam zu gehen.“ S.s Tochter ist an einer Pneumokokken-Meningitis ertaubt und zu 100% schwerbehindert. Manchmal entfernt sie ihre Hörprothese wegen des Tragekomforts. „Dann hört sie nichts.“
Ein großes Problem ist laut S., dass das ganze Haus sehr hellhörig ist. „Ich höre ja sogar hier oben, wenn jemand unten die Haustüre schließt“. Wenn man wolle, könne man in diesem Haus eben alles vernehmen. Eben auch das Ehepaar, das sich ständig beschwert.
Darüber hinaus seien die Wohnungen ungewöhnlich geschnitten. Mit der Eingangstür stehe man quasi im Wohnzimmer. „Da ist kein Gang, der gegen Lärm puffert.“ In seiner Wohnung ist zudem durchgängig Parkett verlegt – ohne Trittschalldämmung, vermutet S. „Deshalb habe ich überall Filzgleiter dran.“ 1993 ausgebaut, seien die Wände auch noch Trockenbau, dahinter Hohlräume.
Die AZ fragt beim Vermieter nach, der Bundesagentur für Immobilienaufgaben (BImA). Hellhörigkeit sei nicht bekannt. „Wir haben 1000 Wohnungen im Bestand. Das müssten wir ja wissen“, sagt Christof Stellwaag, Leiter des Facility Management Bayern.
„Hier ist kein normaler Alltag mehr möglich", klagt Stephan S. Es werde sich bereits beschwert, wenn ein Schlitten im Gang stehe, sei es auch nur in der Nische unter der Treppe. Eine Zeit lang habe er selbst Protokolle geführt, „einfach, um unser Alltagsleben deren Behauptungen entgegenzustellen. Aber alles wird gegen einen verwendet. Die wollen einfach keine Kinder im Haus". Als die AZ um eine Stellungnahme bittet, will sich die Nachbarin unter S. nicht äußern: „Wie käme ich denn dazu?“
Eine Abmahnung, die angeblich geschickt worden sei, hat Stephan S. nie bekommen. Im Mai dafür die erste fristlose Kündigung. „Papa, das schaffst du doch nicht, hier in 14 Tagen auszuziehen“, hat seine zehnjährige Tochter damals zu ihm gesagt. Natürlich habe man die Angelegenheit länger beobachtet. Weil aber „mehrere Nachbarn geklagt haben, musste man handeln“, rechtfertigt Stellwaag von der BImA.
Seit 1994 ist Friedhelm Puhlmann 1. Vorsitzender der Interessensgemeinschaft Wohnanlagen am Perlacher Frost und Tegernseer Landstraße e.V. (IWAP). Eine fristlose Kündigung hat er noch nie erlebt. Seit die BImA einen Teil der Wohnbewirtschaftung von München nach Landshut verlegt hat, „weiß die rechte Hand wohl nicht mehr, was die linke tut“, kritisiert er.
In der Tat wirkt das Verfahren planlos. Drei oder vier fristlose Kündigungen hat S. inzwischen bekommen. Der Grund: „Immer wieder Formfehler.“ Deshalb wurde das Mietverhältnis jetzt gleich doppelt gekündigt: erneut fristlos und „hilfsweise ordentlich“ mit Frist bis 31. August.
Eine Güteverhandlung im Oktober endet ergebnislos. „Es wurde vereinbart, dass die BImA sich um eine Ersatzwohnung bemüht und sich telefonisch mit mir in Verbindung setzt“, sagt S. In der vereinbarten Frist von zwei Wochen habe sich aber niemand gemeldet.
Am Montag ist die mündliche Verhandlung mit Beweisaufnahme. Drei Nachbarn von S. werden als Zeugen gehört, seine eigenen wurden nicht geladen. Wenn er jetzt vor Gericht verliert? „Meine Kinder könnten mich dann nicht mehr so leicht besuchen", sagt er. „Vor allem für die Große wäre das schlimm." Auch finanziell bereitet ihm ein Umzug Sorgen.
Gegenüber der AZ bekräftigt die BImA, wie wichtig ihr Kinder seien. „Sie sollen Raum haben und sich austoben können.“
Für S. ist das der pure Hohn. Sollte er verlieren, sorgt er sich auch um die Signalwirkung. „Wenn das Schule macht, können Eltern ja einpacken.
DIE RECHTSLAGE
Lachen und schreien im üblichen Rahmen
Mieter müssen den von Kindern ausgehenden Lärm dulden, egal, ob er in Wohnung, Treppenhaus oder Hof entsteht. Es ist selbstverständlich, dass Kinder in der Wohnung spielen. Insbesondere innerhalb der allgemeinen Ruhezeiten darf ihr Spielen zwar nicht zur Störung der Nachbarn führen; jeder muss aber das Lachen, Weinen und Schreien von kleinen Kindern als natürliches Verhalten hinnehmen. Dasselbe gilt für die Unruhe, die durch normalen Spiel- oder Bewegungsdrang entsteht. Allerdings muss Kinderlärm „sozialadäquat“ sein: Er darf den „üblichen Rahmen“ nicht übersteigen.
Die Nachbarn dokumentieren: (Kinder-)Lärm-Protokoll vom 12. Juni 2011
7.45 bis 9.30 Uhr: Ich werde durch Lärm über uns geweckt (sogar Fr. Huber wurde davon wach, Namen von der Redaktion geändert); ständiges Gepolter, immer wieder sehr laute Schläge. 9.50 bis 12 Uhr: Gepolter fängt langsam wieder an, wird stetig intensiver, steigert sich zu wildem Toben bis ins Extreme, Rennen, Springen, Sich-Fallen-Lassen. 12.15 bis 13.10 Uhr: Gepolter beginnt erneut, Rennen, Springen, Sich-Fallen-Lassen. 13.20 bis 13.45 Uhr: gelegentliches Gepolter, dazwischen immer wieder Hämmern (S. Senior?). 14.45 bis 15.40 Uhr: ständiges Gepolter, wildes Toben, Rennen, Springen, Sich-Fallen-Lassen. 16 bis 16.20Uhr: extrem lauter Knall (durchs ganze Haus zu hören), dann werden schwere Möbel gerückt (jedenfalls hört es sich so an; sogar bei Finks zu hören), es kratzt, schleift und scheuert über den Boden. 16.20 bis 17.15 Uhr: wieder anhaltendes Toben, Rennen, Springen, Sich-Fallen-Lassen, zwischendurch Hämmern, wieder Möbelrücken. 17.15 bis 17.30 Uhr: gelegentliches Gepolter, immer wieder sehr laute Schläge. 17.30 Uhr: sehr lautes Gepolter (im Treppenhaus? S.s scheinen gegangen zu sein)
Bürgerinitiative „Amisiedlung“ besorgt um Siedlungscharakter
Die Stadt München und die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (BImA) planen „drastische Veränderungen“ der Amerikanischen Siedlung am Perlacher Forst. Die Anwohner sorgen sich um die Sicherheit der Schulwege, den bezahlbaren Wohnraum und eine nachhaltige negative Veränderung des Siedlungscharakters. Deshalb hat die Bürgerinitiative „Amisiedlung“ am Samstag zur Gründungsversammlung vor dem Cincinnati-Kino gerufen. Dort diskutierte man und tauschte sich aus. Das Ziel: ein Bürgernetzwerk aufzubauen und möglichst viel Einfluss bei der Gestaltung geplanter Bauvorhaben wie dem Neubau der europäischen Schule geltend zu machen.
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