Kein Hospiz-Platz in München: Ein Parkinson-Patient berichtet

München - Von seinem Balkon im neunten Stock kann er hinunterschauen auf die Lindauer Autobahn. Zigtausende Menschen wuseln hier täglich in ihren Autos irgendwohin - Erich Dirscherl kommt fast nirgends mehr hin.
Als vor vier Jahren seine Frau an Krebs starb, ist der Münchner (85) in die Seniorenresidenz Augustinum in Großhadern gezogen. Seit sechs Monaten ist er auf einen Rollstuhl angewiesen.
Erich Dirscherl weiß, dass ihm nicht mehr sehr viel Zeit bleibt. Der Tag rückt näher, an dem er nicht mehr aus dem Bett kommen wird, an dem er nicht mehr aufstehen kann.
Parkinson kontrolliert seinen Körper
Vor zwölf Jahren bekam der Rentner die Diagnose Parkinson. Die unheilbare Krankheit übernimmt langsam die Kontrolle über seinen Körper. Sie lässt Gehirnzellen absterben, schädigt das Nervensystem, lässt Bewegungen unkoordiniert werden.
"Meine Frau wollte eigentlich mich pflegen", erzählt der Rentner. Aber es kam anders: Er begleitete sie bis zu ihrem Tod. Jetzt ist er allein. Die Ehe blieb kinderlos, sein Bruder Helmut (77) wohnt 400 Kilometer entfernt, er kann ihn nur selten in München besuchen.
Einsamkeit während des Lockdowns
Während des ersten Lockdowns, als sich Seniorenwohnheime und Kliniken abriegelten, um das Virus draußen zu halten, wurde es noch einsamer als sonst. Nicht einmal zu den Essenszeiten hatte der Rentner Kontakt zu anderen Menschen.
"Das Tablett mit dem Essen wurde vor die Tür gestellt", erzählt er. In dieser Zeit verschlechterte sich auch sein Gesundheitszustand. Die Beine machen ihm zu schaffen. "Ich habe Schmerzen. Es wird immer schwieriger." Auch das Sprechen fällt schwer. Und die Hände machen oft auch nicht, was er will.
Nach draußen kommt Erich Dirscherl nur noch, wenn er zum Arzt muss. Dann holt Reimar Schillinger ihn ab, ein ehrenamtlicher Helfer des Hospizdienstes "DaSein". Dirscherl schätzt die Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit seines Helfers. "Das gibt mir Sicherheit", sagt der Rentner. "Wir bereiten das Arztgespräch gemeinsam nach. Ich höre ja auch sehr schlecht."
Patient Dirscherl: "Ich bin jemand, der vorausplant"
Erich Dirscherl ist ein rationaler Mensch - und ein Macher. Einer, der Entscheidungen trifft. Mit der gleichen Herangehensweise beschäftigt er sich auch mit seinem eigenen Sterben. "Ich bin jemand, der vorausplant, ich möchte wissen, was kommt", sagt er. Angst vor dem Tod habe er nicht. "Aber vor dem Weg dahin. Ich habe Angst vor Schmerzen." Sehr schlimm ist für ihn die Vorstellung, in seiner Notdurft zu liegen und darauf warten zu müssen, bis Hilfe kommt.
Schon als Kind war Dirscherl mit dem Tod konfrontiert. Als er elf Jahre alt war, kehrte sein Vater aus dem Krieg nicht mehr zurück. Drei Jahre später starb auch seine Mutter. Erich kümmerte sich um die Geschwister, kochte für sie. Die drei kamen trotzdem in ein Waisenhaus.
Heimweh nach München
Etwas später begann der junge Münchner, in einer Gärtnerei zu arbeiten, danach lernte er Chirurgiemechaniker. Es folgten noch andere Ausbildungen. "Ich habe in sieben Berufen gearbeitet." Zwischendurch wanderte er nach Kanada aus. Doch das Heimweh zog ihn wieder nach München.
Erich Dirscherl arbeitete sich nach oben: Er ging zur Arbeit, danach zur Abendschule, holte Abschlüsse nach, studierte. Mit 35 war er Ingenieur bei Siemens, später Chef von 120 Mitarbeitern. Im Urlaub reiste er mit seiner Frau in ferne Länder. Wenn er zurückblickt, sagt Dirscherl: "Ich war sehr zufrieden mit meinem Leben."

Heute ist das Tor zur Welt sein PC. Im Bücherregal steht ein Buch "Windows 10 für Senioren". Er informiert sich im Netz, spielt auch gern Karten am PC: "Dabei vergesse ich oft meine Schmerzen." Im Netz hat er sich auch informiert, welche Betreuungsmöglichkeiten es für ihn gibt, wenn das Ende naht. Sein Wunsch: Er wollte in einem Hospiz sterben.
Lange Warteliste bei Hospizen
Doch er hat keine Chance auf einen Platz: In der 1,5-Millionen-Einwohner-Stadt München gibt es nur 28 stationäre Hospiz-Plätze für Sterbende. Sie sind nur für Menschen, deren Tod unmittelbar bevorsteht. Die Warteliste ist lang. Mit seiner Diagnose gilt Erich Dirscherl als zu gesund. "Als ich das erfahren habe, bin ich in ein neues Loch gefallen", sagt er. Seitdem beschäftigen den 85-Jährigen auch Gedanken an einen begleiteten Suizid. Seit der Gesetzesänderung im Februar ist dies theoretisch auch in Deutschland möglich. "Ich will, dass es schnell geht", wünscht sich der schwer kranke Mann.
Nächste Woche wird ihn sein Hospizbegleiter wieder besuchen. Den Wunsch, ihn beim Suizid zu begleiten, wird ihm der Verein "DaSein" nicht erfüllen. Aber gerade auch in solchen Phasen der Angst und Verzweiflung ist er für ihn da: "Wir stehen unseren Patienten seelisch und medizinisch bei und lindern Symptome wie Schmerzen, Unruhe oder Atemnot", sagt Geschäftsführerin Katharina Rizzi. "Wir lassen niemanden allein."