Jubiläumsserie: Es war Sommer – und noch mehr

München - All dies Neue, Krasse, Verheißungsvolle und oft Widersprüchliche einer jungen, noch kaum den Kinderschuhen entwachsenen Demokratie sollte also den Mitbürgern druckfrisch vermittelt werden. Eine Aufgabe, für die wir selbst, alle diese aus Nazi-Schulen ins Neuland gespülten Typen, vielleicht noch etwas zu jung waren.
Immerhin: Am Anfang haben, außer dem Chefredakteur und der Kultur-Chefin, noch zwei ältere Redakteure das Kollegium beraten und bereichert.
Erich Kuby: Der Merker

Erich Kuby stand sogar im Impressum. Schon im AZ-Vorgänger Tageszeitung bewunderten wir seine Reportage "Die zersägte Jungfrau", die der Kriegsheimkehrer im verlassenen Atelier des Nazi-Großbildhauers Joseph Thorak recherchiert hatte.
Der Mann mit dem scharfen Blick, Adlernase und leicht spöttischem Mund, Sohn eines Weltkriegsoffiziers und Gutsbesitzers, entschwand leider bald zur SZ, wo er hoch geschätzt war, gegen allerlei Obrigkeiten einschließlich der US-Umerzieher rebellierte und schließlich als freier Schriftsteller und Publizist die aufziehende Studentenrevolte kritisch begleitete.
Kuby hat viele unter uns Nachkriegs- und Nachwuchsjournalisten beeindruckt und beeinflusst. Wir nannten ihn "Merker", weil er die bürgerliche Gesellschaft in Täter und Merker einteilte.
Sigi Sommer: Der Stadtpoet

Der andere Altmeister besaß eine Visitenkarte mit dem Namen Siegfried René Sommer. Schon drüben bei der "Süddeutschen" hatte mich der gewesene Stenz und Frontkämpfer zu Disziplin und Akkuratesse angehalten: "Schreibst halt jeden Tag a Verserl!" Gemeint waren schlichte, schnörkellose Kurzmeldungen.
Jetzt, bei der AZ, berichtete der Sigi selber unter dem Kürzel "Sieso" laufend, kurz und sachlich über die oft auch komischen Widrigkeiten des damaligen Daseins.
Nach einem Besuch im Planegger Gartenhaus des kongenialen, am Rosenmontag 1948 elend verstorbenen Karl Valentin brachte er eine Geschichte "Aus dem Nachlass eines Unvergessenen". Als "Diogenes" forschte "Sieso" nach dem "letzten Münchner".
Als "Blasius der Spaziergänger" – den Namen erfand AZ-Herausgeber Werner Friedmann, mit dem Sommer durch Dick und Dünn ging – erforschte er dann grantelnd bis philosophierend Menschen und Winkel seiner geliebten Stadt. Mit Kritzelschrift brachte er seine Gedanken zu Papier. Abends ratschte er mit Spezln in einem seiner Stammlokale. Anderntags diktierte der unermüdliche Stadtpoet seiner geduldigen Sekretärin Benita seine Verserl für die Zeitung, insgesamt über 4.500 Stück.
In diesen 40 Jahren verschaffte er München sowie der Abendzeitung einen schier legendären Ruf. Auch Sommer ging, nach dreijähriger Leidenszeit, an einem Faschingstag 1996 in die ewigen Jagdgründe, wie er sich als Stadtindianer auszudrücken pflegte. Und viele weinten ihm nach. Manche trauern noch heute, wenn sie vor seinem Denkmal stehen.
Ingeborg Münzing: Die Lebenshelferin

Das sogenannte schwache Geschlecht war damals im journalistischem Nachwuchs wirklich schwach vertreten. (Derzeit sind 44 Prozent der 7.389 Mitglieder des Bayerischen Journalistenverbandes Frauen).
Ingeborg Münzing war gleichsam Unikat und Vorreiterin. Auch sie stieß aus der Lehrredaktion in die richtige Redaktion – wie nicht wenige Talente, die in der deutschen Medienwelt eine Rolle spielen sollten. So selbstbewusst war die Diplomatentochter vom Tegernsee, dass sie sich nicht einmal vom Sigi, dem Primus inter pares, zum Leberkäsholen schicken ließ.
Wir beide waren gut befreundet. Als wir einmal auf respektive unter der von der AZ geläuteten "Großen Glocke", einem großen Ball, ziemlich eng in den Fasching hinein tanzten, wurden wir vom Oberaufpasser Heizler auf der Stelle gerügt.
Ingeborg entwickelte die erste Reiseseite und entdeckte, erstmals in der deutschen Presse, die Gesundheit als großes Thema. Für zahllose Leser wurde sie zur Ratgeberin, ja zur Lebenshelferin – und für die Zeitung zur ersten Service-Redakteurin. Serie über Serie schrieb sie, dann noch ein paar Bestseller. Erst spät zog sie sich in die elterliche Villa zurück, züchtete Rosen und kämpfte gegen die Verschandelung und Vermarktung der Seeufer. Ein bewusst gesundes Leben schenkte ihr weit über 90 Jahre.
Klaus Budzinski: Der Revoluzzer

In ihrer Frühzeit war die Abendzeitung eindeutig linksliberal verortet. In der Redaktion gab es sogar einen extralinken Flügel. Dessen Wortführer war der Berliner Klaus Budzinski.
Er kam ebenfalls aus der Lehrredaktion und bekannte sich gern als "Kind der Zwanzigerjahre". Größen jener Zeit waren ihm, dem Kulturreporter, die liebsten Interview-Partner. In seinem Buch "Darf ich das mitschreiben?" hat Klaus mitgeschrieben, was ihm prominente Schauspieler und Schriftsteller in den Notizblock sprachen.
Thomas Mann verriet ihm bei seinem München-Besuch, dass er die (aus den Ruinen durchaus restaurierbare) Villa in Bogenhausen nicht wieder beziehen wolle und dass er gerade den "Hochstapler Felix Krull" vollendet habe.
Von Bert Brecht erfuhr er, dass er Material über Einstein sammle. "Mephisto" Gustav Gründgens wollte ihm "gar nichts erzählen", hielt dann aber doch einen "großen Monolog". Theo Lingen und Hans Moser ("unkomische Komiker mit Lebensangst"), Klaus Kinski ("ein irrer Typ"), Heinz Rühmann ("ein bitterer Komiker"), Curt Goetz ("Pointen aus dem Stand"), William Faulkner, John Steinbeck, Somerset Maugham ("ein ungeduldiger alter Gentleman") und so weiter.
Als Freund, Kenner und Kritiker des politischen Kabaretts pflegte er Umgang mit dessen Altvorderen Marya Delvard, Friedrich Hollaender und Erich Kästner ("Der Kindererfinder") ebenso wie mit Werner Finck ("ein sanfter Eulenspiegel") oder Helmuth Qualtinger.
Weniger Wichtige wurden unter der Rubrik "In München trafen ein" gelistet: Deren Namen steckten uns Hotelportiers zu. In Dubrovnik trafen wir uns bei einer deutschen Filmproduktion, wobei dem "Butsch", wie wir ihn nannten, die Aussprache des Sternchens Elma Karlowa ("wunderbarschön") so gut gefiel, dass er sie irgendwie nach Geiselgasteig lotste.
Später fühlte sich der nur wenig ältere Kollege den "Achtundsechzigern" verbunden. Er verkehrte mit Daniel Cohn-Bendit, den er sogar in der konservativen Welt vorstellte, ebenso wie mit Horst Mahler, der ja längst von Extremlinks nach Extremrechts geschwenkt ist.
Als mal ein studentischer Stoßtrupp das Pressehaus in der Sendlinger Straße belagerte und vom Chefredakteur Udo Flade den sofortigen Abdruck eines flammenden Aufrufs forderte, wurde Linksaußen Budzinski, obwohl er die AZ bereits verlassen hatte, als Vermittler gerufen. In hohem Alter engagierte er sich dann noch beim Club Voltaire.
Als er in Gräfelfing verstarb und kurz danach auch die mutige Moderatorin Petra Finsterle dem Krebs zum Opfer fiel, war es an der Zeit, dass sich die letzte linksintellektuelle Clubszene Münchens sang- und klanglos auflöste.
Teil 1 der AZ-Serie: 70 Jahre AZ - So entstand die Abendzeitung
Teil 2 der AZ-Serie: Chefredakteur Michael Schilling - Dafür steht die Abendzeitung
Teil 3 der AZ-Serie: Als in der Abendzeitung die Messer flogen