Joseph von Westphalen: Unter Gerichtsrabenvögeln

MÜNCHEN - Ein Medienberater ist in München wegen versuchten Mordes angeklagt. Der Prozess-Auftakt ist für den Schriftsteller Joseph von Westphalen auch eine Lektion in Rechtsstaatlichkeit.
Was die unzähligen Fernsehgerichtssendungen zu zeigen nicht feinfühlig und detailgenau genug sind, was aber dazugehört wie das Stimmen der Instrumente vor dem Konzert, das ist die Art und Weise, wie Anwälte vor der Verhandlung ihre Roben hervorziehen. Ein bisschen erinnern sie an unseriöse Zauberer, auch wenn sie den Umhang aus Aktentaschen oder Wäschebeuteln ziehen und nicht aus Zylindern. Die einen wollen möglichst lang zivil bleiben und verkleiden sich erst in letzter Sekunde zu Gerichtsrabenvögeln, die anderen flattern gern länger schwarz herum.
Solche Feinheiten kriegt man nur mit, wenn man sich selbst in eine Gerichtsverhandlung bemüht. Fast jeder Prozess ist öffentlich. Es gibt notorische Gerichtsverhandlungsbesucher, die wie in die Jahre gekommene abgebrochene Jurastudenten aussehen, die nie einen Job hatten und hier stilvoll die Zeit totschlagen. Aber auch als normaler Werktätiger sollte man ein paar Stündchen im Gericht zubringen, auch wenn das Recht nicht in ehrwürdigen Sälen gesprochen wird, sondern in Räumen, die aussehen wie kurzfristig umgestellte Klassenzimmer. Die Lektion lohnt sich.
Ungeschickt hält sich der Angeklagte einen aufgequollenen Leitzordner vors Gesicht
Zur Zeit wird im Landgericht in der Nymphenburger Straße 16 eine Anklage verhandelt, bei der es immerhin um Mordversuch geht. Der Angeklagte wird in Handschellen hereingeführt und hält sich ungeschickt den Deckel seines aufgequollenen Leitzordners vors Gesicht. Die pressescheue Geste ist nicht wirklich nötig. Zwei Fotografen verlassen achselzuckend den Raum, mehr als ein Dutzend Besucher sind nicht gekommen. Die Frau, die die Lebensgefährtin des Angeklagten war und dessen Attacken zum Glück einigermaßen unversehrt überstanden hat, ist nicht nur Zeugin, sondern auch Nebenklägerin und daher mit ihrem Anwalt da.
Zuerst liest der Staatsanwalt die Anklageschrift vor. Das polizeiliche Vernehmungsdeutsch hat seine Reize. „Der Angeklagte folgte Frau B., riss sie mit einer Hand aus ihrem Bett nach oben und versetzte ihr ohne rechtfertigenden oder entschuldigenden Grund eine Ohrfeige in deren Gesicht. Infolgedessen sprang die Lippe von Frau B. auf. Frau B. erlitt hierdurch Schmerzen sowie eine Rötung in Form eines Handflächenabdrucks.“
Wäre das eine Bühne: Das Publikum würde brüllen vor Lachen
Man stelle sich vor: Diese Prosa verlesen von Gerhard Polt als Polizeihauptwachmeister im Wechsel mit einem von den Biermösl Blosn als Schreibstubenbeamten. Das Theater würde brüllen vor Lachen. Weniger komisch, wenn in der Anklage widerliche O-Töne auftauchen. Angeblich wollte der Angeklagte seine damalige Lebensgefährtin den Balkon hinunterwerfen. Bei diesem zum Glück gescheiterten Versuch soll er gesagt haben: „Aber vorher zerschneide ich dir noch Deine Fresse.“
Mit Leuten die solche Sätze von sich geben, hält sich das Mitgefühl in Grenzen. Daher bewundert man als Laie den Vorsitzenden Richter, der den Angeklagten auffordert, seinen Werdegang zu schildern – freundlich wie einer der selten gewordenen Ärzte, die sich für ihre Patienten noch Zeit nehmen. Fast zwei Stunden lang berichtet der 49-Jährige von Schulabbrüchen, Unfällen, Führerscheinentzug, Steuerschulden, lieblosen Ehen, seltsamen Jobs. „Medienberater“ nennt er sich. Er ist mit dem Fahrrad herumgefahren und hat versucht, Werbekunden für Telefonbücher zu gewinnen. Aus dem schlägernden Unhold wird immer mehr eine arme Sau.
Die Rede ist von Alkohol "in nicht näher bekannter Menge"
In der Anklageschrift ist mehrmals von Alkohol „in nicht näher bekannter Menge“ die Rede. Am ersten Verhandlungstag geben sich zwei Gutachter eine wahnwitzige Mühe, die Saufgewohnheiten des Angeklagten exakt zu ermitteln. Sie wirken wie verzweifelte Ober, die von einem stumpfen Zecher herausbekommen wollen, wie viele Gläser Wein, Punsch und Schnaps er gekippt hat. Wird wohl beim Strafmaß eine große Rolle spielen.
Wie immer das Gericht urteilen wird: Drei Tage lang beschäftigen sich ein paar ziemlich qualifizierte Leute konzentriert und geduldig mit einem armseligen unkonzentrierten Alkoholiker, der sein Leben nie auf die Reihe gekriegt hat und vor einem dreiviertel Jahr wieder mal ausgeflippt ist und seitdem in Untersuchungshaft sitzt und dort wenigstens nicht saufen kann. Wenn man wieder mal vergessen hat, was ein Rechtsstaat ist, dann empfiehlt sich der Besuch einer solchen Verhandlung.
Joseph von Westphalen