„Jetzt werde ich evangelisch“

Seit Ende Februar treten in München immer mehr Menschen aus der Kirche aus - bald sind die Rekordzahlen vom Frühjahr 2009 erreicht. Der Missbrauchsskandal ist für viele ein Auslöser
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ie Münchnerin Brigitte Eicher (42) tritt aus der katholischen Kirche aus und wird evangelisch.
Petra Schramek ie Münchnerin Brigitte Eicher (42) tritt aus der katholischen Kirche aus und wird evangelisch.

Seit Ende Februar treten in München immer mehr Menschen aus der Kirche aus - bald sind die Rekordzahlen vom Frühjahr 2009 erreicht. Der Missbrauchsskandal ist für viele ein Auslöser

Nur für Kirchenaustritte“ steht an dem Kasten, an dem man seine Nummer holen muss. Christopher Rospleszcz hat gerade einen Zettel gezogen. „Ich wollte das eigentlich schon lange machen“, erzählt der 38-Jährige baldige Ex-Katholik. „Jetzt ist es soweit.“ Für den Verlagskaufmann sind die aktuellen Missbrauchsfälle nur ein letzter Anstoß. „Irgendwie war mir schon immer klar, dass das so läuft. Eine besondere Sauerei finde ich aber, dass die Kirche da so viel unter den Teppich gekehrt hat“, sagt er.

Allein am Freitagvormittag haben hier am Münchner Standesamt in der Ruppertstraße 87 Christen die Kirche verlassen. Die Behörde zählt evangelische und katholische zusammen. Ende Januar wurden die ersten Missbrauchsfälle bekannt, im Februar war mit dem Kloster Ettal dann auch Bayern massiv von dem Skandal betroffen. Jetzt hat München eine Austrittswelle erreicht: „Seit Ende Februar nehmen die Austritte deutlich zu“, sagt KVR-Sprecherin Daniela Schlegel.

Allein im März traten in München bisher schon 878 Menschen aus. Von Woche zu Woche werden es mehr. Der stärkste Tag ist traditionell der Dienstag, weil da auch nachmittags geöffnet ist. Am ersten Dienstag im Monat waren es noch 52, die nicht mehr wollten – letzten Dienstag waren es mit 132 weit über doppelt so viele. „Wir ziehen jetzt Mitarbeiter aus anderen Abteilungen ab, damit wir das bewältigen können – da bearbeiten dann drei statt einer die Kirchenaustritte“, sagt Sabine Hübl, die Leiterin der Urkundenstelle beim Standesamt. Geht es so weiter, werden bald die Rekordaustrittszahlen vom vergangenen Frühjahr erreicht. Im März 2009 waren 941 Münchner ausgetreten – damals hatte es einen rasanten Anstieg gegeben. „Das war vor allem wegen der Finanzkrise“, erklärt Hübl. Auch der Skandal um die Pius-Bruderschaft hatte die Welle im März 2009 noch verstärkt. Gründe für einen Austritt müssen zwar nicht angegeben werden, trotzdem machen sich viele Luft, wenn sie sich ihre Bescheinigung abholen. „Im vergangenen Jahr haben die meisten vom Geld und der Krise geredet. Jetzt regen sich viele über den Missbrauchsskandal auf.“

Mirek Waczak gibt ganz offen zu, dass das Geld für seinen Austritt eine große Rolle spielt. Der 21-Jährige arbeitet als Verkäufer in einem Lebensmittelbetrieb. Sein Vater ist Pole und Katholik, deswegen ist auch er getauft worden. Viel am Hut hatte er mit der Kirche allerdings noch nie. Trotzdem empört ihn, was jetzt passiert. „Das ist eine Frechheit. Es wird Zeit, dass das jetzt mal alles rauskommt“, sagt er.

Die Kirche verliert offensichtlich auch das Vertrauen derer, die trotz vieler Probleme immer noch geblieben sind. Brigitte Eicher hat lange mit der katholischen Kirche gehadert. „Warum wird in Brasilien eine Mauer gebaut, damit der Papst das Elend nicht sieht? Warum gibt es ein Heim für die Kinder katholischer Priester, obwohl es diese Kinder offiziell gar nicht gibt?“, sagt die 42-jährige Hausfrau und Mutter.

Sie lehnt Kirche nicht grundsätzlich ab – ihr Mann ist evangelisch, ihre Tochter besucht den Religionsunterricht. „Ich gebe mich auch nach wie vor der Illusion hin, dass mit Kirchensteuer viel Gutes getan wird.“

Doch der Skandal hat bei ihr das Fass zum Überlaufen gebracht. „Es geht noch nicht mal darum, dass diese Missbräuche passiert sind. Das gibt es überall da, wo Kinder sind: in Sportvereinen, in Internaten“, sagt sie. „ Was mich so enttäuscht, ist der Umgang damit: das andauernde Vertuschen.“ Deswegen hat sie jetzt beschlossen: „Ich werde evangelisch.“

Ende Februar hatte eine Umfrage ergeben, dass weniger als die Hälfte der Katholiken ihre Kirche für ehrlich und lebensnah halten – das zeigt sich jetzt offenbar in Austrittszahlen. Auch Städte wie Passau, Ingolstadt, Würzburg und Nürnberg bestätigen den Trend.

Tina Angerer

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