Ist der Übertritt in Bayerns Grundschulen verfassungswidrig?

Die verbindliche Übertrittsempfehlung der Grundschule, wonach in Bayern Kinder für Mittel-, Realschule und Gymnasium sortiert werden, ist nach einem Rechtsgutachten verfassungswidrig.
Diese Übergangsgutachten nach dem bayerischen Schulrecht seien nicht valide, setzten den Elternwillen außer Kraft und führten zu einem „Lernen in Angst“, sagte Wolfram Cremer, wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Bildungsrecht und Bildungsforschung an der Ruhr-Universität Bochum gestern in München. Bestellt hatte das Gutachten die SPD-Landtagsfraktion.
Deren Schulexperte Martin Güll schloss nicht aus, dass die Fraktion auf der Basis dieses Gutachtens eine Popularklage am Bayerischen Verfassungsgerichtshof (BayVerfGH) erheben könnte.
Die Verfassungshüter hatten zwar schon einmal im Jahre 2014 eine Klage von Eltern gegen die Verbindlichkeit des Übertrittsgutachtens abgewiesen. Dabei sei allerdings auf wesentliche Gesichtspunkte nicht eingegangen worden, sagte Cremer. Außerdem stehe am Ende des Instanzenzuges das Bundesverfassungsgericht.
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Unter den westlichen Bundesländern hält inzwischen nur noch Bayern an der Verbindlichkeit der „Übertrittsempfehlung“ der Grundschule fest. Kinder, die nach der vierten Grundschulklasse einen Notendurchschnitt von 2,33 oder besser erreichen, können auf das Gymnasien gehen, während für die Realschule ein Notenschnitt von mindestens 2,66 verlangt wird. Für den Rest bleibt die Hauptschule, die in Bayern Mittelschule heißt.
Die Verbindlichkeit dieser „Empfehlung“ können die Eltern allerdings aushebeln, wenn sie für ihre Kinder einen dreitägigen „Probeunterricht“ an der von ihnen gewünschten weiterführenden Schule beantragen.
Hier setzt einer der Hauptkritikpunkte des Rechtsgutachtens an: Weil sich nach diesem Probeunterricht 64,6 Prozent der Schüler doch für das Gymnasium und 29,2 Prozent für die Realschule qualifiziert haben, ist für Rechtsprofessor Cremer die „Fehlerhaftigkeit“ der Übertrittsempfehlung bewiesen. Da nur ein Bruchteil der abgewiesenen Kinder am Probeunterricht teilnehme, sei davon auszugehen, dass die Hälfte der Übertrittsgutachten schlichtweg „falsch“ sei.
Außerdem sei seit Jahrzehnten bewiesen, dass Lehrer Kinder aus eher bildungsfernen Elternhäusern automatisch schlechter bewerteten als andere, sagte Cremer weiter. Belegt sei auch, dass das bayerische „Grundschul-Abitur“ eine negative Wirkung auf die Persönlichkeitsentwicklung eines Kindes habe.
Das Leistungsniveau einer Klasse könnte Ergebnisse verfälschen
Verfälschend wirke sich auch das Leistungsniveau einer Klasse aus. Es sei für ein Kind einfacher, in einer leistungsschwachen Klasse die erforderliche Notenhürde zu überspringen als in einer leistungsstarken.
Die SPD im Landtag wertet das Gutachten als ein weiteres Argument für ihre Forderung, das verbindliche Übertrittsgutachten abzuschaffen und wie andere Bundesländer den Elternwillen allein entscheiden zu lassen.
Entschiedener Widerspruch kam dazu vom CSU-Bildungspolitiker Gerhard Waschler. Eine Freigabe des Übertritts führe im differenzierten Schulwesen zu mehr Überforderung, Frustration und Druck bei den Kindern, die nicht „begabungsgerecht“ überträten, so Waschler: „Genau zu dem, was die SPD mit ihren undurchdachten Vorschlägen erreichen will“.
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Der Bayerische Philologenverband (bpv), der Berufsverband der Gymnasiallehrer, sprach sich ebenfalls für das Festhalten an der verbindlichen Übertrittsempfehlung aus. Die Grundschullehrer kennten die Kinder und ihre Interessen genau, so bpv-Vorsitzender Max Schmidt. Die Freigabe des Elternwillens in anderen Bundesländern habe zu mehr Bildungsungerechtigkeit geführt, weil bei fehlender Eignung bildungsorientierte Eltern ihre Kinder trotzdem am Gymnasium anmeldeten.
Die Übertrittszahlen des Schuljahres 2015/2016 sprechen laut SPD-Mann Güll genau gegen die Bildungsgerechtigkeit. Kinder vom Land hätten schlechtere Bildungschancen als die aus der Stadt. So seien im letzten Schuljahr in München 53,4, in Erlangen 51,5, in Würzburg 51,8, in Regensburg 47,9 und in Landshut 46,8 Prozent der Grundschüler ans Gymnasium übergetreten, in den Landkreisen Neumarkt in der Oberpfalz aber nur 26,3, in Tirschenreuth 24,8 und in Donau-Ries 28,2 Prozent.
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Das Kultusministerium verwies auf das Urteil des BayVerfGH aus dem Jahr 2014, wonach das Übertrittsverfahren in Bayern verfassungskonform. Außerdem sei die Wahl der Schulart nach der vierten Jahrgangsstufe nicht endgültig. Die Schüler könnten später wechseln oder später auf erworbenen Abschlüssen aufbauen.
Nur halbe Unterstützung erhielt die SPD mit der Forderung nach Freigabe des Elternwillens von den Freien Wählern. Deren bildungspolitischer Sprecher Günther Felbinger forderte „mehr professionelle Beratung der Eltern bereits ab der dritten Klasse“.