Isarmord: Münchner Polizei hat über 30 neue Spuren

München - Die Fotos von Domenico Lorusso sind verschwunden, ebenso die Blumen und Kerzen am Fuß des Baumes zwischen Isarkanal und Erhardtstraße. Nichts erinnert mehr an den brutalen Mord, dem der 31-jährige Ingenieur vor zehn Jahren, am 28. Mai 2013, zum Opfer fiel.
Doch bei der Mordkommission geht die Suche nach dem Täter weiter. Die Ermittler beim Kommissariat K 11 verfolgen derzeit sogar mehr als 30 neue Spuren auf der Jagd nach dem sogenannten Isarmörder.
Münchner Kriminalgeschichte: Über 183 Ordner Akten im Fall Isarmord
Die Untersuchungen zählen zu den aufwendigsten in der Münchner Kriminalgeschichte. Sie füllen inzwischen 183 dicke Aktenordner, gelagert in vier Metallschränken, die unten im sogenannten "Mordkeller" von K 11 in der Hansastraße stehen. Tausende Seiten Papier, dazu elektronisch gespeicherte Informationen im Polizeicomputer - mehr als eine halbe Million Datensätze.
Ein gigantischer Berg an Informationen, der im vergangenen Jahr bei einer umfassenden Fallrevision durchgesehen wurde, wie Stephan Beer, der Chef der Mordkommission, der AZ erklärt. Zwei Beamte haben drei Monate lang sämtliche Unterlagen durchgearbeitet. "Es ging darum, den Fall aus einer neuen Sichtweise zu betrachten", sagt Beer. Zwei seiner Vorgänger haben sich an dem Fall bereits die Zähne ausgebissen.
30 neue Spuren: Mörder verletzte sich offenbar selbst
Durch die Fallrevision kamen die Ermittler auf über 30 neue Spuren, die derzeit überprüft werden. Dazu gehört auch, dass die Ermittler nochmals Kontakt zu Krankenhäusern, Arztpraxen und Krankenkassen aufnehmen. Der Grund: Der Mörder hat sich, als er auf Domenico Lorusso einstach, offenbar selbst verletzt, möglicherweise an der Hand.
Schusswunden werden von Ärzten routinemäßig der Polizei gemeldet. Auch über auffällige Schnitt- oder Stichverletzungen wird die Kripo in der Regel informiert. Es wäre möglich, dass vor zehn Jahren ein Patient mit einer auffälligen Wunde durchgerutscht ist. Deshalb die erneute Überprüfung.

Isarmord in München: Ein Tag später wäre es in den Urlaub gegangen
Rückblende: Der 28. Mai 2013 war ungewöhnlich warm. Ein verfrühter Sommerabend, den viele in der Stadt im Freien verbrachten. Die Strandbar an der Isar war voll, ebenso die Straßencafés.
Der 31-jährige italienische Luft- und Raumfahrtingenieur radelte etwa gegen 22 Uhr mit seiner Verlobten vom Gärtnerplatz an der Erhardtstraße die Isar entlang. Sie wollten zu ihrer Wohnung in Haidhausen. Das Paar hatte geplant, am nächsten Tag in ihre Heimatstadt Potenza in Süditalien zu reisen, um ihren Familien eine großartige Nachricht zu verkünden: ihre Hochzeit. Doch dazu kam es nicht mehr.
Auslöser für den Isarmord: Fremder bespuckt Dominco Lorussos Verlobte
Zwischen dem Deutschen Museum und dem Europäischen Patentamt stand ein Mann unter den Bäumen. Er spuckte die vorbeiradelnde Verlobte von Domenico Lorusso offensichtlich ohne Grund an. Der 31-Jährige fuhr zurück, um den Fremden zur Rede zu stellen.
Die Dolmetscherin beobachtete aus einiger Entfernung ein kurzes Gerangel zwischen den beiden Männern. Lorusso sank zu Boden. Die Frau wusste da noch nicht, dass ihr Verlobter niedergestochen worden war. Sie schrie den unbekannten Mann an, er solle verschwinden.
Täter ging Richtung Corneliusbrücke: Was aussieht wie ein Unfall endet tödlich
Der Täter entfernte sich, ging ohne Eile in Richtung Corneliusbrücke. Die Verlobte und ein Zeuge, der in der Nähe war, beschrieben ihn als jungen Mann. Der Fremde trug eine längere Jacke oder Mantel und eine Umhängetasche.
Die Verlobte wählte nicht den Polizeinotruf 110, sondern den Rettungsdienst 112. Auf den ersten Blick war nicht zu erkennen, dass ein Mensch niedergestochen worden war. Das Rad des 31-Jährigen lag am Boden. Als Ersthelfer oder Zeuge hätte man auch von einem Unfall ausgehen können, nicht von einer Gewalttat.
Domenico Lorusso hat sich nach Kräften gegen den Angreifer gewehrt. Das belegen Schnittwunden an seinen Armen und Händen. Ein Stich traf sein Herz. Er wurde noch am Tatort von einem Notarztteam reanimiert, starb aber kurze Zeit später in einem Krankenhaus.
Isarmord: Polizei trifft erst Minuten nach dem Rettungsdienst ein
Bei der Tatwaffe handelt es sich laut K 11 um ein "extrem scharfes Messer mit einer einschneidigen Klinge, vermutlich mehr als zehn Zentimeter lang." Möglicherweise ein Kampfmesser. Die Ermittler überprüften deshalb auch Kampfschulen in München, ohne Erfolg.
Minuten nach dem Rettungsdienst trafen die ersten Polizeistreifen ein. Der Täter war weg. Eine Großfahndung lief an. Für Straßensperrungen war es schon zu spät. Mantrailer, speziell ausgebildete Spürhunde, nahmen Witterung auf.

Der genetische Fingerabruck des Täters ist gespeichert
Sie verloren die Spur in der Nähe des Gärtnerplatzes. Der Mörder war verschwunden. Er hätte bereits wenige Minuten nach dem Mord im Bahnhof Fraunhoferstraße in eine U-Bahn steigen und sich kilometerweit vom Tatort entfernt aufhalten können, sagen die Ermittler.
Bis heute ist es nicht gelungen, den Täter zu identifizieren. Sein genetischer Fingerabdruck ist gespeichert, doch ohne Treffer in der Datenbank bringt das die Fahnder nicht weiter. 10.000 Euro Belohnung sind ausgesetzt für Hinweise, die zur Identifizierung des Isarmörders führen. "Der Fall ist immer noch präsent", betont Stephan Beer und verspricht: "Die Akten werden nicht geschlossen, wir suchen weiter nach dem Mörder."
Kein fester Erinnerungsort für Lorusso an der Münchner Erhardtstraße
Am Tatort legten Menschen über Jahre immer wieder Blumen und Kerzen nieder, brachten Fotos von Domenico Lorusso. Eine Gedenkstätte an der Isar, die an seinen Tod erinnert, ist nicht geplant. Auf Anfrage der AZ schrieb die Stadt: Der Isarmord "ist ein tragisches Ereignis. Für die Stadt gibt es jedoch keine inhaltlichen Anknüpfungspunkte, am Tatort an der Erhardtstraße einen Erinnerungsort zu schaffen."
Im vergangenen Jahr wurde der genetische Fingerabdruck des Mörders weltweit erneut mit allen bei Polizeibehörden gespeicherten DNA-Daten von Straftätern abgeglichen. Die Aktion läuft noch. "Ein Gesamtergebnis liegt noch nicht vor", sagt Stephan Beer, Chef der Mordkommission.

Speichelproben: Größte Massentestung in München
Durch das am Tatort sichergestellte Blut des Mörders hat die Polizei dessen DNA. Um den Täter zu identifizieren, werden noch immer bei Verdächtigen Speicheltests zum Vergleich durchführt. Bisher wurden 5.839 Speichelproben genommen und ausgewertet. Es ist schon jetzt die größte Massentestung, die es je in der Stadt gegeben hat.
Noch immer werden jeden Tag neu eingehende DNA-Proben mit den Daten im Polizeicomputer abgeglichen. Bei jedem Verdächtigen, der durch aggressives Verhalten auffällt, oder der jemanden angespuckt hat, wird routinemäßig ein Rachenabstrich gemacht und mit der DNA des Mörders verglichen.
Hinweis im Fall Isarmord: Daten von 64.000 Handys wurden ausgewertet
"Noch immer geht im Schnitt einmal pro Woche ein Sachverhalt zu einem 'Spucker' ein", sagt Stephan Beer. Bisher waren es über 400 Hinweise, 86 Spuren, keine davon brachte den Durchbruch. Die Polizei überprüfte bisher rund 16.000 Menschen und bearbeitete 1.050 Hinweise. Die Daten von rund 64.000 Handys, die damals im Umfeld des Gebietes bei Funkmasten eingeloggt waren, wurden ausgewertet, fast 7.500 Handybesitzer überprüft. Bei Großkontrollen wurden 2013 von April bis Mitte Juni 2.500 Personen in Tatortnähe überprüft.
Polizisten suchten alle Cafés und Restaurants der Umgebung auf, redeten mit Wirten, Bedienungen und Anwohnern. Immer ging es um die selben Themen: Gab es besonders auffällige Gäste, aggressive Männer?

Besucher eines Heavy-Metal Konzerts werden überprüft
In der nahe gelegenen Muffathalle fand am Tatabend ein Konzert der Heavy Metal Band "Dead by April" statt. Die Ermittler machten über die Vorverkaufsstellen 440 Konzertbesucher ausfindig und sprachen mit ihnen. Zudem wurden Kliniken und Arztpraxen kontaktiert. Im Münchner Ärztlichen Anzeiger bat die Soko um Hilfe.
Ärzte und Pflegepersonal sollten sich melden, falls sie sich an einen auffälligen Patienten erinnern können. Videobänder von Sicherheitskameras im Bereich der Isar, an Bahnhöfen und Haltestellen wurden überprüft. Super-Recognizer - Spezialisten, die selbst in großen Menschenmengen auffällige Personen finden, sahen sich die Aufnahmen erneut an. Ein Tatverdächtiger wurde nie identifiziert.
Was vom Mörder bekannt ist
Der Mann war 25 bis 35 Jahre, möglicherweise aber auch älter. Er ist um die 1,80 Meter groß. So beschrieb ihn damals die Verlobte. Sie ist inzwischen weggezogen. Experten der Uni Innsbruck kamen nach einer vertieften DNA-Analyse zum Ergebnis: Der Mörder habe mit hoher Wahrscheinlichkeit braune Augen, eher helle braune Haare und einen mittleren Hauttyp, seine Vorfahren väterlicherseits stammten aus Osteuropa, der Nordukraine, Belarus oder Russland.
Die Verlobte hat das Gesicht des Angreifers zu kurz gesehen. Bis heute gibt es kein Phantombild. Grund: es bestehe die Gefahr, damit Hinweisgeber zu beeinflussen. Welche Sprache der Isarmörder spricht, wie er sich ausdrückt, ist nicht bekannt. Die Verlobte stand zu weit weg, konnte ihn nicht hören.
Der Täter im Isarmord: Weiterhin ein Phantom
Domenico Lorusso ist dem Täter zuvor vermutlich nie begegnet. Es hieß, die Aggressivität des Täters deute auf einen Drogensüchtigen hin. Spekulation. Er hat extrem gewalttätig reagiert, aber auch nicht all zu impulsiv. Im Gegenteil: Nach der tödlichen Attacke rannte er nicht weg, sondern ging ruhig in Richtung Corneliusbrücke.
Die Polizei geht davon aus, dass es sich damals um einen nicht all zu jungen Mann handelte, jemanden mit Kraft und Beweglichkeit. Bis zum heutigen Tag bleibt der Mörder ein Phantom. Da es keine Verbindung zwischen Opfer und Täter gibt, ist die Aufklärung der Tat extrem schwierig.