Insolvenzberaterin: Die Münchner wirtschaften sehr oft am Limit

München - Erika Schilz und ihre Kollegen unterstützen an der Mathildenstraße 3a Münchner Verbraucher, Solo-Selbstständige sowie Kleinstunternehmer, wenn die sich verschätzt haben.
Gerade während der Corona-Pandemie ist häufig guter Rat gefragt, wenn der Schuldenberg zu groß wird.
Corona-Krise: "Viele Münchner wissen einfach nicht weiter"
AZ: Frau Schilz, stimmt das, Sie arbeiten schon seit 1988 bei der städtischen Schuldnerberatung des Sozialreferats?
Erika Schilz: Seit Juni 1988, um genau zu sein. Kurz vorher, am 1. Januar 1988, wurde die Schuldner- und Insolvenzberatungsstelle der Stadt München gegründet. Viele Jahre habe ich als Beraterin gearbeitet. Seit 2011 bin ich die Sachgebietsleiterin.
Mit all Ihrer Erfahrung: Wie ordnen Sie das ein? Haben Sie so etwas wie die Coronakrise schon einmal erlebt?
Wir kennen natürlich viele Wirtschaftskrisen. 2008 bis 2010 hatten wir auch eine sehr verstärkte Nachfrage. Aber das ist alles nicht vergleichbar.
Warum?
Im Gegensatz zur Finanzkrise wissen viele Münchner einfach nicht weiter. Wirte können nicht sagen, wann sie wieder ihre Gaststätte im Normalbetrieb laufen lassen können. Viele Arbeitnehmer wissen nicht, wann sie wieder aus der Kurzarbeit kommen und das übliche Gehalt verdienen werden.
Jeder zwölfte Münchner überschuldet: "Ich rechne mit Insolvenzwelle"
Und dann sind da noch die laufenden Kosten.
Ja, und nicht zu vergessen, die Kredite, die man in Raten zurückzahlt. Kaum jemand kauft ein Auto oder gar eine Immobilie cash. Da werden Darlehen aufgenommen. In München wirtschaften viele am Limit, vor allem die Mieten brauchen einen Großteil des Einkommens auf. Der Rest reicht für die Ausgaben. Aber bei einer Krise wie jetzt bekommt man große Probleme.
Wie viel Prozent der Münchner haben überhaupt Schulden?
Das kann ich Ihnen nicht sagen. Aber es gibt eine Zahl für die Rate der überschuldeten Münchner: 8,37 Prozent. Oder anders gesagt etwa 110.000 Erwachsene. Jeder zwölfte Münchner ist also überschuldet. Das ist eine Zahl vor Corona, aus dem Jahr 2019. Der deutschlandweite Wert beträgt 10 Prozent, der bayernweite 7,3 Prozent.

Rechnen Sie also mit einer Pleitewelle?
Ich finde, der Begriff Pleite ist viel zu negativ. Er wird den Menschen überhaupt nicht gerecht. Das kratzt an der Würde. Nennen wir es bitte eine Insolvenzwelle, mit der ich rechne. Denn viele Behörden, die Insolvenzen verwalten oder weiterleiten, kehren ja jetzt erst wieder in den Alltag zurück. Der laufende Betrieb staut sich. Außerdem gibt es neue, gesetzliche Stundungsmöglichkeiten für Kreditverpflichtungen etwa. Aber diese Schulden müssen ja irgendwann wieder zurückgezahlt werden. Bis 30. September ist die Insolvenzantragspflicht ausgesetzt. Also werden vor allem ab 30. September viele Unternehmer, die nicht mehr weiterwirtschaften können, Insolvenzanträge stellen.
Gibt es weitere Corona-Sonderregelungen?
Darlehensverträge dürfen derzeit bei Ratenrückstand nicht gekündigt, Raten können bis vorerst Ende Juni 2020 gestundet werden. Und auch corona-bedingt ausstehende Mieten dürfen bis 30. Juni kein Grund sein, den Mietvertrag zu kündigen.
Ist das nicht zu kurz gedacht?
Wir gehen davon aus, dass auch diese Frist bald bis zum 30. September verlängert wird. Aber das wiederum hat ja Folgen für die Gläubiger. Denen fehlt dann auch das Geld. Für alle Beteiligten bringt die ganze Situation große Unsicherheiten mit sich.
"Wenn sich jemand überschuldet, kann das die Beziehung belasten"
Wie groß ist derzeit der Beratungsbedarf?
In allen Münchner Schuldnerberatungsstellen hatten wir 2019 etwa 6.300 Personen, die Rat brauchten, plus 4500, die telefonisch oder online Hilfe bekamen. Hier in unserem städtischen Büro wurden 2.300 überschuldete Personen beraten. Hinzu kamen 1.500 Anfragen.
Und wenn man das vergleicht mit den Zahlen seit März?
Im März war es noch relativ ruhig. Da hatten wir 600 telefonische Anfragen. Eine leichte Steigerung gegenüber Februar also. Aber im Mai hatten wir 1.250 Telefonanfragen – eine Verdoppelung im Vergleich zum März.
Ist Schuldnerberatung eine rein finanzielle Angelegenheit?
Nein, Schuldnerberatung ist auch psychosoziale Arbeit. Betroffene leiden unter Schlaflosigkeit oder nervösen Zuständen. Die Leute sprechen nicht nur über ihre Schulden, sondern auch über ihre sonstigen Sorgen und Nöte. Die Erleichterung ist groß, wenn sie endlich über ihre Situation reden können.
Welche Auswirkungen kann das noch haben?
Das reicht bis in die Familie: schlechte Stimmung, belastete Beziehungen, Depression, Aggression.
Erika Schilz rät: Corona-Soforthilfe und Antrag auf Arbeitslosengeld
Was sind das für Schicksale, wer sucht bei Ihnen Rat?
Das kann die kleine bayerische Wirtschaft sein, die ja von heute auf morgen Verdienstausfall hatte. Oder auch der Arbeitnehmer, der bei einem Autozulieferer beschäftigt ist, jetzt wegen Kurzarbeit seine laufenden Kosten nicht mehr decken kann und Angst davor hat, sich verschulden zu müssen.
Was ist die häufigste Ursache für Überschuldung?
Über die Jahre hat sich das verändert. Arbeitslosigkeit ist zwar nach wie vor die Überschuldungsursache Nummer eins. Aber die Quote geht zurück. Die Niedrigeinkommen sind immer häufiger der Grund. Die Leute verdienen nicht genug, um das Leben in München zu finanzieren, Ressourcen zu bilden und für die Rente vorzusorgen. Das ist alles sehr eng gestrickt. Aber auch Erkrankungen sorgen immer häufiger für Arbeitslosigkeit.

Gibt es aus Ihrer Sicht eine Eigenheit der Corona-Krise?
Diese Krise kam ohne Vorankündigung. Aber wie bei anderen Krisen kommen die Folgen bei uns verzögert an. Oft versuchen die Betroffenen, die Situation selbst zu meistern, Schulden zu verlagern. Und irgendwann kommt die Erkenntnis, dass man es selbst nicht mehr schafft. Es ist ein großes Eingeständnis zu sagen: Ich brauche professionelle Hilfe.
Was empfehlen Sie Überschuldeten als Erstes?
Die Corona-Soforthilfe beantragen und bei Bedarf den Antrag auf Grundsicherung oder Arbeitslosengeld stellen. Es gilt immer: Erst einmal die eigene Existenz sichern. Und dann sollte man immer Kontakt aufnehmen mit den Gläubigern, um Lösungen zu finden. Wichtig ist, dass die Verträge weiterlaufen und nicht gekündigt werden, egal ob Miete oder Zulieferer bei Gastronomen.
Klingt alles machbar.
Da täuschen Sie sich. Sehr häufig haben die Leute sogar Probleme, ihren Briefkasten zu öffnen – aus Angst, es könnte eine Mahnung oder sonstige Forderung dabei sein.
Insolvenzberaterin: "Wer andere berät, muss selbst stabil sein"
Was ist besser, die persönliche Beratung oder die telefonische?
Selbstverständlich die persönliche. Ob Gestik, Mimik oder allgemeines Verhalten: Wenn Ihnen jemand gegenüber sitzt, können Sie als Berater viel besser einschätzen, ob und wie verzweifelt jemand ist. Und wir wollen ja bestmöglich helfen.
Gibt es eigentlich Corona-Missverständnisse?
Ja, gerade bei der Soforthilfe. Von Selbstständigen wurde sie insbesondere zu Beginn beantragt, um auch die privaten Ausgaben, wie etwa die Miete, zu decken. Aber die Hilfe ist zweckbestimmt für die Betriebsausgaben einzusetzen. Eventuell kommen da noch einige in Bedrängnis, weil sie die geleistete Soforthilfe zurückzahlen müssen. Das ist alles noch sehr unsicher.

Hat sich Ihre Arbeit durch Corona verändert?
Die organisatorischen Aufgaben sind immens. Abstands- und Hygieneregeln, Masken, Schutzfenster – und gleichzeitig den Betrieb aufrecht halten, das ist viel Aufwand.
Ist Ihre Arbeit belastender als sonst?
Ja, die Krise betrifft nicht nur die Menschen, die unsere Hilfe brauchen. Sie betrifft auch uns. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind alle professionell. Aber es ist wichtig, dass man selbst stabil ist. Sonst wird die Arbeit zu belastend.
Wie lasse ich mir von Ihnen am besten und schnellsten helfen, falls ich überschuldet bin?
Einfach zum Telefon greifen und die Hotline der Schuldnerberatung der Stadt München oder die Hotline der Verbände anrufen. Am Telefon werden erste Details geklärt. Wenn Sie bereits Kontakt mit den Sozialbürgerhäusern haben, kann man hier beim Sachbearbeiter nach Schuldnerberatung fragen. Und dann wird ein Termin vereinbart – für ein Erstgespräch.
Überschuldung in München: So kann Ihnen geholfen werden
Die Schuldner- und Insolvenzberatung ist seit Ende der 80er Jahre ein bundesdeutsches Pflichtangebot der Städte. Mittlerweile haben die Berater große Erfahrung bei dem Thema. Egal, wie die Details der Überschuldung aussehen: Die Schuldnerberater kennen nach mehr als 30 Jahren fast jedes erdenkliche Szenario, auch wenn sich etwa Privates und Geschäftliches vermischt.
Nicht jeder hat Anspruch auf die professionelle Schuldnerberatung des Sozialreferats. Vor allem Großunternehmen sind ausgeschlossen. Oft sieht die Realität so aus, dass sie ohnehin eine Rechtsabteilung haben oder mit einer Anwaltskanzlei kooperieren, die für sie regelmäßig rechtliche Fragen klärt.
In München ist das so geregelt: Beratungsanspruch haben grundsätzlich überschuldet Verbraucher, Solo-Selbstständige sowie Kleinstunternehmer mit maximal fünf Mitarbeitern. Schuldner- und Insolvenzberatung, Betreuungsstelle und Fachstelle Armutsbekämpfung, Mathildenstraße 3a, telefonisch erreichbar unter 233-24353.
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