Ins Waisenhaus und nicht mehr zurück: Annie kämpft um ihre Kinder
MÜNCHEN - Familiengerichte, die katholische Jugendfürsorge, Gutachter und Anwälte streiten um das Kindeswohl: Und eine Mutter ( 32) will nur, dass sie ihre Liebsten endlich in die Arme schließen kann
Annie E. ist Mutter von vier Kindern. Das erfüllt die 32-jährige Nigerianerin, die seit sechs Jahren hier lebt, mit Glück und Stolz. Doch ihr Mutterherz ist zerrissen: Denn nur Tochter Lisa (23 Monate, alle Kindernamen geändert) lebt bei ihr. Die Geschwister James (10), Samantha (5) und Mary (4), kamen vor zwei Jahren ins Waisenhaus - und seitdem nicht mehr zurück. Annie E. ist verzweifelt und besorgt um das Wohl der Kinder: „Ich werde mich immer gut um sie kümmern. Und ich bin bereit, dafür Hilfe anzunehmen.“
Hilfe. Dieser Begriff fällt in dem Fall, der ganze Aktenberge füllt, immer wieder. Ämter, Gutachter, Richter haben beraten. Zumindest Annie E. war dadurch nicht geholfen.
Vor zweieinhalb Jahren dachte Annie E., ihr Leben würde besser laufen als bisher. Nach einer unglücklichen Ehe - von Gewalt und Streitigkeiten um Geld ist die Rede – finden sie und ihre Kinder Zuflucht in einem Haus für obdachlose Mütter und Kinder. Im Mai 2008, Annie E. ist mit Lisa schwanger, treten Komplikationen auf, sie kommt ins Krankenhaus. In dem Schutzhaus kann man sich nicht um James, Samantha und Mary kümmern. Die sieben, drei und zwei Jahre alten Kinder werden vorübergehend im Waisenhaus untergebracht. Dort attestieren Betreuer den Kindern Entwicklungsdefizite und Verhaltensauffälligkeiten, informieren das Jugendamt. Ergebnis: Die Kinder bleiben.
Die Fronten zwischen dem Waisenhaus und der mittlerweile von ihrem Ex-Mann geschiedenen Annie E. verhärten sich. Die Mutter sieht ihre Kinder nur einmal pro Woche, sorgt sich. „Am Anfang wurde gesagt, sie hätten Defizite – jetzt haben sie noch mehr.“
Der Fall kommt zum Amtsgericht München, das ein Gutachten über die Erziehungsfähigkeit beider Elternteile anordnet. Im Sommer 2009 wird Annie E. bescheinigt, dass keine Gefährdung des Kindeswohls zu befürchten sei. Hilfs- und Unterstützungsmaßnahmen werden angeraten.
In seinem Beschluss vom 3. November 2009 folgt das Gericht den Empfehlungen der Sachverständigen: Die Mädchen Samantha und Mary sollen beim Vater leben, der Sohn James bei seiner Mutter und der kleinen Schwester Lisa. Teile der Vormundschaft werden auf die Katholische Jugendfürsorge der Erzdiözese München Freising übertragen, sie solle auch die Rückführung regeln.
Es fällt Annie E. schwer, aber sie akzeptiert den Gerichtsbeschluss und die Trennung der Kinder. „Das Wichtigste ist, dass sie aus dem Waisenhaus kommen.“ Diese Hoffnung hat sich bis heute nur zum Teil erfüllt: Die Mädchen sind vor einigen Monaten beim Vater und dessen neuer Lebensgefährtin eingezogen, Annie E. sieht sie monatelang nicht, mittlerweile alle zwei Wochen eine Stunde unter Aufsicht. James lebt noch immer im Waisenhaus, darf nur drei Tage pro Woche zur Mutter. Anwältin Antoni von Langsdorff übt scharfe Kritik an dem Vorgehen: „Immer war die Rede von rascher Rückführung und regelmäßigem Umgang. Es wird mit unterschiedlichem Maß gemessen.“
Dabei sei Stabilität gegeben: Zunächst im Frauenhaus. Ab Mitte August hat Annie E. eine eigene Wohnung, sie besucht wöchentlich die Erziehungsberatung. Die zuständige Mitarbeiterin der Katholischen Jugendfürsorge „verzögere und blockiere“ dennoch, nennt keinen Termin.
„Der Sohn fühlt sich bestraft, verletzt sich selbst.“ Anfang Juli habe James aus dem zweiten Stock des Waisenhauses springen wollen. „Daraufhin hat ein Kinderpsychiater die sofortige Rückführung des Kindes zur Mutter empfohlen", sagt Langsdorff.
Doch nichts passiert. Jetzt hat die Anwältin Strafanzeige gegen die zuständige Mitarbeiterin der Katholischen Jugendfürsorge wegen Misshandlung Schutzbefohlener gestellt.
Auf Nachfrage bei der katholischen Jugendfürsorge teilt Abteilungsleiterin Edda Elmauer aber lediglich mit, dass „aus datenschutzrechtlichen Gründen keinerlei Auskünfte zum Sachverhalt“ gegeben werden können. Und weiter: „Die Klärung unterschiedlicher Standpunkte muss in diesen Fällen dem jeweiligen Familiengericht überlassen werden.“
Doch wann? Annie E. ersehnt nichts mehr, als dass auch James endlich das Waisenhaus verlassen kann: „Sie geben ihm keine Liebe. Jedes Mal wenn ich meinen Sohn sehe, sagt er: ‚Mama, hol' mich bitte raus aus dem Kindergefängnis.’“
Vanessa Assmann
- Themen:
- Amtsgericht München