Infektiologe Spinner über steigende Corona-Zahlen: "Lockdowns sind die absolut letzte Maßnahme"

AZ-Interview mit Christoph Spinner: Der 38-jährige Infektiologe ist Oberarzt und Pandemiebeauftragter am TU-Klinikum Rechts der Isar. Zudem spricht er als Corona-Experte im BR-Podcast "Wissenschaft und Forschung".
AZ: Herr Doktor Spinner, immer wieder wird vor mutierten Corona-Viren gewarnt, die so ansteckend wie Omikron und so gefährlich wie Delta sind und gegen die die aktuellen Impfstoffe weitgehend wirkungslos sind. Wie wahrscheinlich ist dieses Horrorszenario?
CHRISTOPH SPINNER: Theoretisch ist das denkbar, praktisch ist die Wahrscheinlichkeit für ein solches Szenario aber aus meiner Sicht eher gering. Damit es tatsächlich zu einem schweren Covid-19-Verlauf kommt, braucht es zwei Voraussetzungen: die Gefährlichkeit des Virus, also Virulenz, und die fehlende Immunkompetenz des infizierten Menschen. Auch wenn es in Deutschland nach wie vor eine stattliche Zahl nicht vollständig geimpfter Menschen gibt, ist die Immunkompetenz in der Bevölkerung deutlich gestiegen. Durch Impfung und Genesung hatten immerhin etwa 80 Prozent aller Menschen in Deutschland bis Ende März 2022 Kontakt mit Sars-CoV-2. Es wird in Zukunft vor allem darauf ankommen, die Immunkompetenz in Risikogruppen, also bei älteren und kranken Menschen, hoch genug zu halten und Auffrischungsimpfungen anzubieten.
"Reisen beschleunigen den Austausch von Erregern"
Derzeit schaut man besorgt nach Portugal, wo trotz einer Impfquote von 87 Prozent offenbar eine neue Infektionswelle mit der Mutation BA.5 entsteht. Kann diese nach Deutschland kommen und wie gefährlich ist das?
Wichtig ist, dass Infektion und Erkrankung nicht mehr so direkt miteinander korrelieren wie zu Beginn der Pandemie. Starb Anfang 2021 bezogen auf die Allgemeinbevölkerung noch fast jeder zwanzigste Sars-CoV-2-Infizierte, liegt dieser Anteil heute bei deutlich unter 0,1 Prozent. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass vor allem ältere und chronisch kranke Menschen ohne wirksamen Impfschutz auch in Zukunft durch die Infektion gefährdet bleiben.
Können mit den Urlaubsrückkehrern generell neue bislang unbekannte Mutationen ins Land gebracht werden?
Reisen und globaler Tourismus beschleunigen den Austausch von Erregern. Auf der anderen Seite begünstigen hohe Infektionszahlen auch zu Hause die Entstehung neuer Varianten. Wichtig ist daher, die Immunkompetenz durch Impfungen hochzuhalten. Das schützt vor allem vor schweren Verläufen, reduziert aber gleichzeitig auch die Infektionswahrscheinlichkeit.

Unter anderem das RKI warnt vor einer Infektionswelle in Herbst und Winter. Müssen wir uns auf Lockdowns, Schulschließungen und Maskenpflicht gefasst machen?
Aus meiner Sicht sollten vor allem Menschen mit einem hohen Risiko für schwere Covid-19-Verläufe durch regelmäßige Impfkampagnen geschützt werden. Es kommt vor allem darauf an, die schweren symptomatischen Verläufe zu verhindern. Nur, wenn dies nicht durch Impfungen gelingt oder das Infektionsgeschehen so diffus wird, können neuerliche nicht-pharmakologische Interventionen wie Masken und Kontaktreduktion eine sinnvolle Ergänzung sein. Lockdowns sind aus meiner Sicht die absolut letzte Maßnahme, die man ergreifen sollte.
Für wie sinnvoll halten Sie jetzt noch eine Impfpflicht?
Anstelle einer Impfpflicht empfehle ich gezielte Impfkampagnen, vor allem für Gruppen mit einem hohen Risiko für schwere Verläufe. Dadurch ermöglichen wir es jedem, sich vor allem selbst zu schützen. Weil Impfungen aber auch das Risiko der Übertragung reduzieren, kann jeder Einzelne so auch seine Liebsten schützen.
Derzeit treten offenbar massenhaft Infektionen bei Personen auf, die schon dreimal geimpft sind oder die vor nicht allzu langer Zeit schon eine Infektion durchgemacht haben. Wie ist das zu erklären? Schützen Impfungen überhaupt noch?
Impfungen schützen vor allem vor schwerem Covid-19, also vor der Notwendigkeit einer Krankenhausaufnahme und vor dem Tod. Sie reduzieren auch die Wahrscheinlichkeit einer Sars-CoV-2 Infektion, vor allem in den ersten Wochen nach der Impfung. Der Infektionsschutz lässt offenbar schneller nach als der Schutz vor einer schweren Erkrankung - aber gerade deshalb sind die Impfungen eben alles andere als wirkungslos.
"Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Zahlen steigen"
Halten Sie eine weitere Booster-Impfung für sinnvoll? Sollte man auf einen angepassten Impfstoff warten?
Eine vierte Impfung, also ein zweiter Booster, ist vor allem für Menschen über 70 Jahre, Mitarbeitende im Gesundheitswesen und chronisch kranke Menschen sinnvoll. Menschen mit relevanter Immundefizienz sollten nach aktueller Stiko-Empfehlung sogar ein fünftes Mal geimpft werden. Vereinfacht ausgedrückt kann man sagen, dass jeder Kontakt mit dem Sars-CoV-2 Virus, sei es durch Impfung oder Infektion, die Immunkompetenz steigert. Ich würde hierbei immer die Impfung bevorzugen. Auch wenn es immer mal wieder neue Impfstoffe geben wird: Derzeit ist unklar, wann angepasste Impfstoffe zur Verfügung stehen. Gerade für Risikogruppen sollten die Impfungen deshalb nicht hinausgezögert werden.
In Deutschland steigen die Infektionszahlen wieder etwas an, die Zahl der Verstorbenen bleibt relativ hoch. Ist das der Beginn einer neuen Welle?
Das lässt sich meines Erachtens aus den aktuellen Daten noch nicht ablesen. Es ist aber sehr wahrscheinlich, dass in den kommenden Monaten die Infektionszahlen wieder steigen. Wir sind daher gut beraten, uns schon heute durch eine neue Impfkampagne und weitere Maßnahmen vorzubereiten.