In Würde zuhause sterben

Ein neues Team aus Palliativ-Medizinern, Pflegern und Sozial-Pädagogen betreut Todkranke bis zuletzt - in den eigenen vier Wänden. Die AZ war unterwegs mit einer Ärztin, die Todkranke begleitet
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Hilfe bis zuletzt: Viele Menschen wollen zuhause sterben – bislang war das schwer möglich. Das SAPV-Team betreut jetzt erstmals Todkranke in ihren eigenen vier Wänden.
Martha Schlüter 4 Hilfe bis zuletzt: Viele Menschen wollen zuhause sterben – bislang war das schwer möglich. Das SAPV-Team betreut jetzt erstmals Todkranke in ihren eigenen vier Wänden.
Zeit für die Patienten: Palliativmedizinerin Edda Eckhofer (r.) erklärt Lisa Tretter die Packungsbeilage der Tabletten ihres Mannes.
Martha Schlüter 4 Zeit für die Patienten: Palliativmedizinerin Edda Eckhofer (r.) erklärt Lisa Tretter die Packungsbeilage der Tabletten ihres Mannes.
Die Palliativmedizinerin auf dem Weg zu einer Patientin.
Martha Schlüter 4 Die Palliativmedizinerin auf dem Weg zu einer Patientin.
Eckhofer bei Familie Schmeller: Oftmals dauern die Besuche eine knappe Stunde.
Martha Schlüter 4 Eckhofer bei Familie Schmeller: Oftmals dauern die Besuche eine knappe Stunde.

MÜNCHEN - Ein neues Team aus Palliativ-Medizinern, Pflegern und Sozial-Pädagogen betreut Todkranke bis zuletzt - in den eigenen vier Wänden. Die AZ war unterwegs mit einer Ärztin, die Todkranke begleitet

Fast könnte es ein normaler Nachmittag sein. Draußen senkt sich die Dämmerung über Neuperlach, in der Wohnung von Familie Tretter* herrscht eine gemütliche Weihnachts-Stimmung. Es gibt Kaffee und selbst gebackene Plätzchen. Ein ganz normaler Nachmittag, so wie er sich täglich in zehntausenden Wohnungen in Deutschland zuträgt. Doch zwischen den Porzellantassen mit dem blauen Blümchenmuster und dem Teller mit den Spitzbuben liegt ein gelbes Stethoskop. Und auf dem Boden steht eine Arzttasche mit den Schmerztabletten. Familie Tretter hat Besuch: Edda Eckhofer sitzt mit am Tisch.

Eckhofer ist Ärztin. Die 53-jährige Palliativmedizinerin arbeitet im ersten SAPV-Team Münchens. Das steht für „Spezialisierte Ambulante Palliativversorgung“. SAPV soll schwerstkranken Menschen einen schmerzfreien Abschied in den eigenen vier Wänden ermöglichen. Das Ziel der Palliativmedizin ist es nicht, die Erkrankung zu heilen – sondern die Schmerzen erträglich zu machen, für ein Lebensende mit Würde.

Ein Patient, den Ärztin Eckhofer an diesem Tag besucht, ist Markus Tretter. Der 87-Jährige leidet an einer schweren Gefäßerkrankung, er hat mehrere Schlaganfälle und einen Herzinfarkt hinter sich. Bis vor kurzem hatte er solche Schmerzen, dass er andauernd schrie. Die Ärzte im Krankenhaus konnten ihm nicht mehr helfen. Dann erfuhr sein Sohn von der SAPV des Christophorus-Hospizes und rief bei dessen Leiter Sepp Raischl an. Keine zwei Stunden später war das Team in Tretters Wohnung in Neuperlach. „Obwohl der Aufzug kaputt war“, scherzt Ehefrau Lisa.

Die Kosten für die SAPV trägt die Krankenversicherung

Das SAPV-Team, das aus je fünf Ärzten, Sozialpädagogen und Pflegekräften besteht, ist in ganz München unterwegs und betreut im Schnitt 25 Patienten. Die ambulante Palliativversorgung wird vom Hausarzt oder vom Klinikarzt verordnet. Die Kosten trägt die Krankenversicherung.

Voraussetzung ist, dass der Patient an einer unheilbaren, weit fortgeschrittenen Erkrankung leidet, die in absehbarer Zeit zum Tod führt. „Manche betreuen wir noch monatelang“, sagt Eckhofer. „Andere wiederum sterben noch am Tag unseres ersten Besuches.“

"Man kann sich Zeit nehmen für jeden Patienten"

Der Vorteil der SAPV: „Man kann sich Zeit nehmen für den Patienten.“ Es sei dabei sehr wichtig, nicht einem so enormen zeitlichen Druck ausgesetzt zu sein wie Hausärzte. Eckhofer weiß, wovon sie spricht. Sie arbeitete 16 Jahre als Allgemeinmedizinerin. „Ich habe Verluste gemacht, weil ich mir viel Zeit für die Patienten genommen habe“, sagt Eckhofer. „Das war wohl falsch – das Gesundheitssystem will es nicht so.“

Jetzt, so sagt sie, fühlt sie sich „wie auf einer Insel der Glückseligen“. Wenn die Ärztin die Kranken besucht, verschreibt sie nicht nur Artzney und gibt Spritzen, sie spricht auch mit den Angehörigen, bleibt zum Kaffee wie bei Familie Tretter oder verbringt auch mal eine knappe Stunde bei Familie Pöschel, zu der sie jetzt fährt.

Angelika Pöschel war noch im Februar mit ihrem Mann Arnold beim Skifahren im Zillertal. Da habe er immer so gehustet, sagt die 64-Jährige: „Als wir wieder zurück waren, ging er endlich zum Arzt – und der hat die Diagnose gestellt: Lungenkrebs mit Metastasen im Gehirn.“ Heute liegt der 64-jährige Wissenschaftler im Bett, kann sich kaum noch unterhalten, dämmert meist weg. „Manchmal grinst er. Manchmal gibt er mir sogar ein Küsschen“, sagt Angelika Pöschel. Ihre Augen werden feucht. „Diese Wesensveränderung ist schwer zu akzeptieren. Einerseits denke ich: Wenn er nicht alles mitbekommt, leidet er auch nicht so. Aber es ist so schlimm, dass er gar nicht mehr der ist, der er einmal war.“

Drei Bierkästen mit einem Brett darauf dienen als Nachttisch

Der gelernten Krankenschwester war klar: Ihr Mann bleibt zuhause. „Ich wollte ihn nicht irgendwohin abschieben.“ Zusammen mit den beiden erwachsenen Kindern und dem SAPV-Team pflegt die 64-Jährige ihren todkranken Mann nun in ihrer Wohnung im Westend. Man sieht, wie schlagartig die Krankheit die Familie überrascht hat: Drei Bierkästen mit einem Brett darauf dienen als Nachttisch neben dem Krankenbett. Der Betttisch besteht aus einem Tablett, an das Sohn Stefan Stücke eines alten Lattenrosts geschraubt hat.

Die Familie sei ein Musterbeispiel, eine „vorbildliche Organisation, wie hier alle zusammenarbeiten und helfen“, sagt Eckhofer. Das sei nicht selbstverständlich: „Für viele ist der Tod ein Tabuthema. Sogar für Ärzte - im Medizinstudium ist die Ausbildung nur auf das Heilen ausgelegt. Der normale Arzt empfindet Versagen, wenn der Patient stirbt.“ Wie man Schwerstkranken den Abschied so angenehm und schmerzfrei wie möglich macht, das musste sich Eckhofer in unzähligen Fortbildungen erst selbst aneignen.

Drei Patienten sind es insgesamt an diesem Tag, die Eckhofer besucht, darunter auch Marianne Schmeller. Auch sie leidet an Krebs. Die 83-jährige Rechtsanwältin erlitt einen Hörsturz, als sie die Diagnose bekam. Jetzt hat sie Metastasen in der Brust und im Darm und aufgrund der psychischen Belastung Bluthochdruck und Gesichtsschmerzen.

„Wie können Sie schlafen?“, fragt Eckhofer ihre Patientin. „Mit den Artzney besser, aber ich bin tagsüber ziemlich benommen“, erwidert Schmeller. Eckhofer verschreibt ihr ein anderes Schmerzmittel. „Früher habe ich mit dem Tablettenkauf immer bis zum Griechenland-Urlaub gewartet“, sagt die 83-Jährige und blickt traurig auf das Rezept. Dort habe sie die Medizin viel billiger bekommen. „Aber nach Griechenland werde ich wohl nie mehr fahren können.“

* Die Namen der Patienten wurden geändert.

Kasanobu Serdarov

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