Immer mehr Senioren trinken
Immer mehr ältere Münchner haben ein Alkoholproblem: Jeder dritte Mann und fast jede fünfte Frau über 60 Jahren ist gefährdet
München - Für den Suff ist Anna Eder früh aufgestanden: Um sieben, als der erste Kiosk in ihrer Nähe aufmacht, steht sie bereits davor. So wie andere dort jeden Morgen die Zeitung oder einen Kaffee mitnehmen, so kauft sie stets ein kleines Flascherl Wodka. Und weg damit. Und weiter. Sie geht spazieren. Zum nächsten Kiosk. Zum nächsten Wodka.
„Zu dieser Zeit war ich ganz unten“, sagt Anna Eder. Fünf Jahre sei das her, die richtig harte Zeit. Damals ist sie 67 Jahre alt, pensionierte Lehrerin und hat gerade ihren Mann verloren, der an einem schweren Tumor litt und den sie bis zu seinem Tod gepflegt hat. Dann beginnt sie, zu regelmäßig zu trinken. Meistens Wodka. Der schmeckt ihr zwar nicht, aber er wirkt. Mehrmals landet sie in der Klinik.
Heute trinkt Anna Eder Wasser, auch auf Feiern, auf denen alle mit Sekt anstoßen wollen. Sie hat verstanden, dass sie Alkoholikerin ist, dass der Suff sie kaputt macht, und sie hat es geschafft, damit aufzuhören. Damit will sie anderen, denen es wie ihr geht, Mut machen.
Denn: Immer mehr Senioren haben Alkoholprobleme. Allein in Bayern pflegen etwa 600 000 Menschen über 60 Jahren ein riskantes Trinkverhalten, gut 60 000 davon in München. Davon seien etwa 25 000 Münchner über 60 abhängig, sagt Gerhard Bühringer. Im Schnitt seien ein Drittel der Männer und fast ein Fünftel der Frauen im Seniorenalter gefährdet. Das hat eine aktuelle Studie des Robert-Koch-Instituts ergeben.
Gerhard Bühringer ist Professor für Suchtforschung an der Technischen Universität Dresden und hat zusammen mit dem Institut für Therapieforschung München eine neue Studie gestartet: Zusammen mit Münchner Suchtexperten und der Caritas soll älteren Menschen mit Alkoholproblemen kostenlos geholfen werden (siehe unten). Gleichzeitig wollen die Wissenschaftler den gefährlich hohen Alkoholgenuss im Alter näher erforschen.
Zwar hat Alkoholismus immer ganz persönliche Gründe, doch gerade im Alter gibt es Risikofaktoren: Viele Senioren leiden unter Einsamkeit, vor allem nach dem Verlust von Angehörigen oder Freunden. Einige haben ein geringes Selbstwertgefühl, weil sie sich nach dem Ausstieg aus dem Beruf nutzlos fühlen. Andere kommen mit dem Altern und dem Verlust der früheren Gesundheit oder der eingeschränkten Mobilität nicht klar. Und wieder anderen ist einfach langweilig.
Bei Anna Eder war es, wie bei den meisten Betroffenen, eine Mischung. Als sie aber merkte, dass sie sich selbst immer mehr kaputt machte, ließ sie sich helfen. Weil das viel zu wenige machen, will sie dafür werben und dafür auch mit ihrem richtigen Namen in der Zeitung stehen. Das macht sie aber aus Rücksicht auf ihren Sohn nicht. „Er hat sehr unter meinem Alkoholismus gelitten“, sagt sie. „Und dieses Thema ist auch heute immer noch sehr, sehr schwer für ihn.“
Angehörige merken es oft als Erste, wenn ältere Familienmitglieder zu viel Alkohol trinken. Häufig sind sie auch der Grund dafür, dass ältere Alkoholiker ihr Problem einsehen: Etwa weil sich die eigenen Kinder abschotten oder den Großeltern den Kontakt zu den Enkeln verweigern. Doch zwischen dem Erkennen und der Therapie liegt ein großer Schritt: Die Bereitschaft, Hilfe anzunehmen. „Alkoholismus wird von vielen immer noch nicht als Krankheit angesehen, sondern als persönliches Laster“, sagt Anna Eder. Viele schämen sich für ihr Problem und suchen deshalb keine Hilfe. „Das ist aber falsch“, sagt die 72-Jährige. Sie gibt zu: „Alleine hätte ich es nie geschafft, mit dem Trinken aufzuhören.“
Sie arbeitet jetzt wieder, gibt Kindern schulische Nachhilfe. Es ist eine neue Aufgabe für sie. „Ich werde wieder gebraucht, und dieses Gefühl brauche ich“, sagt sie. Den Alkohol braucht sie nicht mehr.
Kostenlose Hilfe für Senioren mit Alkoholproblem
Bisher gab es kaum Angebote, die älteren Menschen bei Alkoholproblemen helfen. Jetzt gibt es sogar ein kostenloses: Bei mehreren Beratungsstellen in und um München können sich Senioren nun bei Alkoholproblemen Hilfe holen.
Das Projekt heißt „Elderly“ und wird unterstützt durch Wissenschaftler, die eine Studie über Alkoholkonsum im Alter durchführen. Praktisch sieht die Hilfe so aus: Eine ambulante Therapie, entweder mit vier oder mit zwölf Terminen, ohne Medikamente, sondern ausschließlich mit individueller, psychosozialer Hilfe.
Informationen über das Projekt gibt es bei der Caritas (089 551 690), bei Prop e. V. (08122 999 8130) und beim Institut für Therapieforschung (089 360 80 447).
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