Immer mehr Münchner treten aus der Kirche aus

Im vergangenen Jahr wandten sich mehr Bürger von den großen Kirchen ab, als je zuvor – doch die Gründe sind diesmal nicht so offensichtlich.
von  Paul Nöllke
Anstiege der Kirchenaustritte hängen normalerweise eng mit Skandalen zusammen. Dies scheint 2019 nicht der Fall. (Symbolbild)
Anstiege der Kirchenaustritte hängen normalerweise eng mit Skandalen zusammen. Dies scheint 2019 nicht der Fall. (Symbolbild) © Karl-Josef Hildenbrand/dpa

München – Im Vergleich zu anderen deutschen Großstädten schien die Kirche in München immer recht präsent. Während in Berlin, Dortmund oder Magdeburg die Umnutzung verlassener Kirchengebäude debattiert wurde, schien so etwas in München undenkbar. Man verließ sich hier auf die starken Gemeinden und ihre vielen Mitglieder. Doch deren Zahl bröckelt nun erheblich.

2019 traten in München mehr Gläubige aus der Kirche aus als je zuvor – und das in einem Jahr, das eigentlich nicht von großen kirchlichen Skandalen oder Diskussionen geprägt war. Das geht aus der neuesten Münchner Statistik hervor, die die Stadt diesen Monat veröffentlicht hat. Insgesamt bekundeten in der Landeshauptstadt 15.854 Menschen ihren Austritt aus der Kirche, 14 Prozent mehr als 2018. Es war das erste Mal, dass jeden Monat mehr als 1.000 Münchner ihre Kirche verließen.


Die Grafik zeigt die Anzahl der Kirchenaustritte in München seit 2010. (klicken für größere Ansicht). Grafik: Sophie Anfang, Quelle: Statistisches Amt München.

Welche Glaubensrichtung hat den größten Mitgliederschwund?

Wer aus der Kirche austritt, muss das persönlich im Standesamt bekunden, Gründe muss niemand angeben. Erfasst werden nur die Austritte aus Kirchen, die über das Finanzamt eine Kirchensteuer einziehen. In Bayern sind das die katholische und evangelisch-lutherische Kirche sowie die evangelisch-reformierten und alt-katholischen Glaubensgemeinschaften. Auch der Landesverband der Israelitischen Kultusgemeinde wird in der Statistik erfasst. Noch ist nicht klar, welche Glaubensrichtung die meisten Austritte verbuchen musste.

Für die Kirchen ist wohl vor allem ein Aspekt der Statistik besorgniserregend. Denn wer sich die Zahlen der vergangenen Jahre ansieht, bemerkt, dass Kirchenaustritte normalerweise eng mit Skandalen in den Kirchen zusammenhingen (siehe Tabelle). So verließen beispielsweise nach dem Bekanntwerden der Missbrauchsfälle 2010 so viele Menschen die Kirche wie nie zuvor. Doch im Jahr 2019 drangen keine großen Kirchen-Skandale an die Öffentlichkeit. Dennoch traten jeden Monat über 1.000 Münchner aus ihrer jeweiligen Glaubensgemeinschaft aus.


Die Tabelle listet Kirchenaustritte monatsweise auf und setzt sie in Zusammenhang mit Ereignissen. Quelle: Statistisches Amt München.

Die Kirche muss sich fragen: "Was wollen die Menschen?"

Die Zahlen scheinen auch das Erzbistum München Freising zu überraschen. Auf AZ-Anfrage wollte sich das Bistum nicht zu den offiziellen Zahlen äußern. Man wolle erst auf die eigenen Daten für das Jahr 2019 warten.

Stadtdekanin Barbara Kittelberger vom Evangelisch-Lutherischen Dekanat München erklärt, dass auch sie noch keine präzisen Zahlen habe. "So eine Nachricht schmerzt aber natürlich", so Kittelberger. "Wir müssen uns als Kirche mehr denn je fragen: Was brauchen die Menschen?"

Gerade zu Corona habe die Kirche durch die Diakonie und Beratungsstellen helfen können. "Wir müssen hinschauen, wo die Not ist", so die Dekanin. Kirchenaustritte hätten für viele heutzutage mehr als nur einen Grund. "Menschen sind in ihrem Glauben erwachsener geworden." Sie würden sich bewusster für den Glauben entscheiden, aber auch mehr fordern. "Das ist etwas Gutes", sagt Kittelberger, "aber darauf müssen wir uns einstellen."

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