Interview

Immer mehr Münchner in der Schuldenspirale: "Einkommensarmut nimmt zu"

Hohe Mieten, steigende Preise für Energie und Lebensmittel, Inflation: Der Berater Oliver Mocz hilft Münchnern aus der Schuldenfalle. Er rechnet damit, dass immer mehr trotz Vollzeitarbeit in die Armut abrutschen.
von  Nina Job
Immer mehr Menschen reicht das Geld, das sie verdienen, nicht mehr für die Miete und Lebenshaltungskosten. Sie häufen Schulden an.
Immer mehr Menschen reicht das Geld, das sie verdienen, nicht mehr für die Miete und Lebenshaltungskosten. Sie häufen Schulden an. © Roland Weihrauch/dpa

München - Krankheit, Kurzarbeit, Scheidung – es gibt viele Ereignisse, die die eigene finanzielle Situation in eine böse Schieflage bringen können. Schulden, von denen man nicht weiß, wie man sie je zurückzahlen kann, quälen: Albträume, Angst und Verzweiflung sind häufige Begleiterscheinungen. Gleichzeitig schämen sich viele der Betroffenen und scheuen sich, Hilfe zu suchen – ein Teufelskreis.

Aktionswoche der Schuldnerberatungen

Diese Woche findet eine bundesweite Aktionswoche von 1.400 gemeinnützigen Schuldnerberatungen statt, sie haben sich zusammengeschlossen in der AG SBV. Die Experten fordern einen Rechtsanspruch auf eine kostenfreie, gemeinnützige Schuldnerberatung für alle Berufsgruppen.

Schon vor Corona hätten nur zehn bis 15 Prozent der überschuldeten Menschen beraten werden können. Die AZ sprach mit Caritas-Berater Oliver Mocz. Er berichtet über Münchner, die den Boden unter den Füßen verloren hatten – und wie er ihnen hilft.

Oliver Mocz.
Oliver Mocz. © privat

AZ: Herr Mocz, die Mieten in München sind eh schon extrem hoch, nun steigen auch noch viele andere Kosten drastisch. Fürchten Sie, dass sie bald überrannt werden in der Schuldnerberatung?
OLIVER MOCZ: Also einfacher wird es bestimmt nicht werden. Die Einkommensarmut wird meiner Meinung nach zunehmen. Die exorbitant hohen Mieten, die Inflation – natürlich merkt man das. Da kommen große Probleme auf uns zu.

Die häufigsten Ursachen für Schulden

Was sind die häufigsten Ursachen, warum vielen Menschen Schulden über den Kopf wachsen?
Es gibt eine Statistik darüber. Ganz oben steht der Arbeitsplatzverlust. Aber ich würde es gern anders erklären: Stell dir vor, du hast einen Plan in deinem Leben und dann passiert etwas, das nicht vorhersehbar war. Der Job geht verloren, man wird krank, die Frau trennt sich, du musst Unterhalt zahlen, die Freundin wird ungeplant schwanger. Weitere Beispiele wären Kurzarbeit oder eine gescheiterte Selbstständigkeit. Und dann gibt es noch die Einkommensarmut. Hier reicht das Einkommen trotz Vollzeitjob nicht für die Lebenshaltungskosten und man ist zusätzlich von Sozialleistungen abhängig.

Gibt es Berufe, in denen die Gefahr, sich zu sehr zu verschulden, besonders hoch ist?
Das Verrückte ist: Es hängt überhaupt nicht mehr nur vom Beruf ab. Meine Beobachtung ist, dass der Lebensstandard zunehmend davon abhängt, ob ich Zugang zu günstigem Wohnraum habe. Und dann ist natürlich die Frage, wie viel von meinem Einkommen nach der Zahlung der Miete noch übrig bleibt. Das hängt nicht immer nur vom Beruf ab.

Schuldenfalle: "Alle können betroffen sein"

Aber im Niedriglohnsektor ist die Gefahr doch sicher größer?
Akademiker mit abgeschlossenem Studium sind seltener dabei. Zu mir kommen eher Fließbandarbeiter, Reinigungskräfte, Verkäufer, Rentner mit und ohne Nebenjob, Kindergärtnerinnen, Erzieherinnen. Es trifft aber auch Leute, die bei Banken gearbeitet haben oder Polizisten. Alle können davon betroffen sein. Schwierig ist es natürlich auch, wenn ich keine abgeschlossene Berufsausbildung habe oder ich mich von einem befristeten Job zum nächsten hangeln muss. Wenn ich mit weniger auskommen muss und es passiert etwas, womit ich nicht rechne, ist es viel schwieriger, das auszubalancieren.

Wann spricht man eigentlich von Überschuldung?
Gemeint ist, wenn ich Verbindlichkeiten habe, die über meine finanziellen Möglichkeiten gehen.

Wie gehen Sie vor, wenn jemand zu Ihnen kommt?
Ich versuche, den Leuten die Angst zu nehmen, indem ich informiere. Bei Schulden kann man eigentlich immer etwas machen.

Das Pfändungsschutzkonto ist der erste Schritt

Was sind die ersten Schritte?
Zunächst geht es darum, einen Zustand zu erreichen, in dem das Einkommen zumindest für Elementares wie Miete und Lebenshaltungskosten ausreicht. Der erste Schritt kann dabei zum Beispiel die Einrichtung eines Pfändungsschutzkontos sein. Was nicht immer funktioniert, ist, dass man jemanden komplett schuldenfrei bekommt.

Was genau ist ein Pfändungsschutzkonto?
Es ist der erste Schritt, um das Einkommen für den Lebensunterhalt auf dem Konto zu sichern. Wenn ich Gläubiger bin, habe ich die Möglichkeit mithilfe eines Gerichtsbeschlusses zu pfänden. Das Gesetz sagt aber: Man muss ein Minimum behalten dürfen zum Leben. Dieser Betrag darf nicht gepfändet werden. Wie hoch er ist, hängt davon ab, für wie viele Menschen man unterhaltsrechtlich verantwortlich ist.

Und wenn das Geld trotz Pfändungsschutz nicht reicht?
Dann gibt es die Möglichkeit, einen Antrag auf Erhöhung des Pfändungsschutzes bei Gericht zu stellen. Beispielsweise weil man in den Sozialleistungsbezug rutscht und gleichzeitig pfändbares Einkommen hat. In Ballungsräumen kann das aufgrund der hohen Mieten vorkommen.

Wie schnell geht das mit einem Pfändungsschutz?
Das geht schnell, nach maximal vier Bankarbeitstagen steht der Pfändungsschutz.

Ab wann eine Privatinsolvenz sinnvoll ist

Wann ist eine Privatinsolvenz sinnvoll?
Wenn es unrealistisch ist, dass ich die Schulden je wieder zurückzahlen kann und es aussichtslos ist, dass ich mich in Zukunft mit den Gläubigern einigen kann. Eine Insolvenz gibt Sicherheit, das kann viel wert sein. Aber man sollte vorher genau darauf schauen, dass die Verschuldungsspirale tatsächlich gestoppt ist. Wenn die Ursache nicht beseitigt ist, war es für die Katz.

Wie lange begleiten Sie die Menschen üblicherweise?
Bis der- oder diejenige schuldenfrei ist. Oder eben so lange es gewünscht ist. Bei einem einfachen Fall - Existenz einigermaßen gesichert, Miete wird bezahlt - kann es sein, dass drei Monate Begleitung ausreichend sind. Manche betreue ich aber auch schon seit zehn Jahren.

Gehen Ihnen manche Schicksale nahe?
Natürlich versuche ich immer, professionelle Distanz zu wahren. Aber bevor wir telefoniert haben, habe ich einen Anruf bekommen, dass jemand verstorben ist, den ich sehr lange beraten habe. Das geht mir schon nahe. - Es gibt auch einen Vater, an den ich immer wieder denken muss. Seine Frau trennte sich, er war fix und fertig, dass er seine Kinder nicht mehr regelmäßig sehen konnte. Er konnte den Unterhalt nicht zahlen. Also ist die Unterhaltsvorschusskasse in Vorleistungen gegangen und hat dem Vater fast 1.000 Euro Unterhaltsvorschuss pro Monat in Rechnung gestellt.

Wie ist das ausgegangen?
Er ist wieder zusammen mit seiner Frau. Aber er hat über 50.000 Euro Schulden bei der Unterhaltsvorschusskasse. Unterhaltsvorschuss ist sehr wichtig, aber bei diesem Einzelfall war es dann doch eher tragisch. Zumal es die einzigen Schulden sind.

Was würden Sie sagen: Geraten mehr Menschen selbstverschuldet in die Schuldenfalle - oder unverschuldet?
Was sind schon selbstverschuldete Schulden? Klar kann man sagen, dass es unklug war, einen Kredit aufgenommen zu haben oder nicht das günstigste Auto gekauft zu haben. Die Leute machen vielleicht unüberlegte Sachen und sicher gibt es auch welche, die versuchen, das System zu missbrauchen. Aber ich denke, das ist die absolute Ausnahme. Meist ist es so, dass Dinge passieren, mit denen man nicht gerechnet hat. Auch eine Immobilienfinanzierung kann schiefgehen. Menschen mit niedrigem Einkommen sind manchmal auf Kredite angewiesen, entweder aus Notwendigkeit, weil zum Beispiel die Waschmaschine kaputtgegangen ist - oder weil die Familie die Armut nicht spüren soll.

Darum gibt es lange Wartezeiten

Sie haben monatelange Wartezeiten. Woran liegt das? Gibt es zu wenige Schuldnerberater?
Das liegt nicht nur daran. Es hat auch mit Corona zu tun und einer Gesetzesänderung zur Privatinsolvenz. Inzwischen nimmt der Bearbeitungsrückstand ab. Vor Kurzem betrug die Wartezeit bei uns noch ein halbes Jahr, jetzt sind es ungefähr vier Monate. Aber wenn jemand anruft und sagt, mein Konto ist gepfändet, ich komme nicht mehr an mein Geld, kommt er natürlich nicht auf die Warteliste. Das ist ein Notfall.

Sie sind Vater, was vermitteln Sie Ihren Kindern, damit sie sich später mal nicht zu sehr verschulden?
Ich versuche ihnen zu vermitteln, dass sie nicht jedem materiellen Wunsch sofort nachgeben müssen. Einfach mal ein paar Tage zurückstellen und schauen, ob man die Sache wirklich braucht. So mache ich es ebenfalls: Auch, wenn ich mir etwas leisten kann, überlege ich oft ein paar Tage - und dann denke ich oft: Ach, das brauche ich doch gar nicht.


Privatinsolvenz: "Die meisten kommen zu spät"

Die Zahl der Privatpleiten ist zuletzt sprunghaft gestiegen. Das hat auch mit einer Gesetzesänderung zu tun: Verbraucher können nun nach drei statt nach bisher weitgehend üblichen sechs Jahren von ihren Restschulden befreit werden. Viele Privatinsolvenzen könnten aber verhindert werden, meinen Experten.

"Die meisten kommen zu spät in die Schuldnerberatung", sagt Ines Moers von der Bundesarbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung (AG SBV). "Ganz viele wissen nicht, dass sie nicht erst dann in die Beratung kommen können, wenn ihnen die Insolvenz droht." Von 2020 auf 2021 hat sich die Zahl der Privatpleiten auf 79.620 fast verdoppelt (Statist. Bundesamt).

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