Im Ausnahmezustand: Bayern gegen das Deutsche Reich im Krisenjahr 1923

München/Berlin - "Im August erreichte der Dollar die Million. Wir lasen es mit leichtem Atemstocken, als ob es die Ansage eines unglaublichen Rekords gewesen wäre. 14 Tage später neigten wir schon dazu, darüber zu lachen, denn als ob er neue Energie an der Millionengrenze aufgenommen hatte, erhöhte der Dollar sein Tempo um das Zehnfache und fing sofort an, in 100-Millionen- und dann in Milliardenschritten zu steigen. Im September hatte die Million keinen praktischen Wert mehr und die Milliarde wurde die Zahlungseinheit."

So beschreibt der Publizist Sebastian Haffner in seiner "Geschichte eines Deutschen" die Hyperinflation, die das Reich 1923 mit voller Wucht traf. Forciert hatte die Entwicklung der Ruhrkampf.
Die Franzosen beharrten auf der Leistung von Reparationen vom im Krieg unterlegenen Deutschen Reich und hatten Lieferverzögerungen zum Anlass genommen, im Januar das Ruhrgebiet zu besetzen.

Hyperinflation 1923: Die Wirtschaft des Deutschen Reichs steht vor dem Kollaps
Die Reichsregierung förderte den passiven Widerstand gegen die französische Besatzung. Beamten wurde sogar verboten, den Befehlen der Franzosen Folge zu leisten. Im September 1923 sieht die erst einen Monat zuvor gebildete Reichsregierung, eine Große Koalition unter Reichskanzler Gustav Stresemann (DVP), schließlich keine Möglichkeit mehr, den passiven Widerstand aufrechtzuerhalten.
Die Wirtschaft steht vor dem Kollaps, die Reichsfinanzen sind zerrüttet. In den Diskussionen darüber, ob, wann und wie der Widerstand aufgegeben werden soll, ist es der bayerische Ministerpräsident Eugen von Knilling, der den Anschein einer Kapitulation vor Frankreich vermeiden will.

Bayern will die Kapitulation um jeden Preis verhindern
Und doch, so heißt es in Erläuterungen des Bundesarchivs, ist es nichts anderes als eine Kapitulation, als am 25. September die Proklamation über den Abbruch des Widerstands erlassen und einen Tag später verkündet wird. In Bayern übernimmt just am 25. September Adolf Hitler die politische Leitung des nur drei Wochen zuvor in Nürnberg gegründeten Deutschen Kampfbundes.
Er vereint SA, Bund Oberland - aus einem Freikorps hervorgegangen – und den Verband "Reichsflagge". Im Freistaat waren schon seit längerem verschiedene Verbände aktiv, zusammengefasst als "Vaterländische Verbände", national gesinnt und von der Regierung als Unterstützung gegen linksradikale Kräfte gesehen.
Ausnahmezustand im Freistaat: "Man hat eine Heidenangst vor Bayern in Berlin"
Unter Gustav von Kahr, der 1920/21 bayerischer Ministerpräsident gewesen war, war zudem das Konzept der "Ordnungszelle Bayern" entwickelt worden. Ein Konzept "mit antisozialistischer, antisemitischer, national-konservativer, teilweise auch monarchistischer Komponente", wie es die Historiker Karl-Ulrich Gelberg und Ellen Latzin beschreiben.

Der Freistaat, der sich also quasi als Wahrer der Reichseinheit sieht, fühlt sich nun auf den Plan gerufen: Die bayerische Regierung ruft am 26. September 1923 den Ausnahmezustand aus. Sie erlässt die "Verordnung zum Schutz und zur Wiederherstellung der öffentlichen Ruhe und Ordnung" und überträgt die gesamte exekutive Gewalt auf den nunmehrigen Generalstaatskommissar Gustav Ritter von Kahr.
Seine Aufgabe: Kämpfe zwischen Linken und Rechten in Bayern verhindern. Verbote verhängt er allerdings nur auf der linken Seite. Und Bayern frohlockt. Im Organ der BVP heißt es: "Man hat eine Heidenangst vor Bayern in Berlin. Bayern kann der Berliner Regierung nur den Rat geben, die Hand völlig aus dem Spiel zu lassen. Bayern wird sich selbst helfen."
Die Angst vor einem Putsch wächst: Reichspräsident Friedrich Ebert reagiert
Die Regierung in Berlin fürchtet ihrerseits einen Rechtsputsch in Bayern und reagiert: Reichspräsident Friedrich Ebert (SPD) verhängt den reichsweiten Ausnahmezustand. Reichswehrminister Otto Geßler (DDP), früher Erster Bürgermeister von Regensburg und Oberbürgermeister von Nürnberg, wird die vollziehende Gewalt übertragen.
Er, der sich als "Vernunftrepublikaner" sieht, weist zwei Tage später den Kommandeur der in Bayern stationierten 7. Division General Otto von Lossow an, das NSDAP-Parteiorgan "Völkischer Beobachter" zu verbieten – ein Text hatte Stresemann verunglimpft.
Adolf Hitler dementiert Vorbereitungen für einen "hirnverbrannten" Putsch
In Bezug auf einen Putsch meldet sich auch Hitler zu Wort. Der Vertreter der Reichsregierung in München berichtet, was von Hitler zu hören war, an die Reichskanzlei: "Jedes Mitglied seiner Organisation werde bezeugen können, dass keinerlei Vorbereitungen für einen solchen 'hirnverbrannten' Plan getroffen gewesen sei."
Und weiter: "Nach seiner Behauptung habe vielmehr Herr von Kahr sowohl wie Herr von Knilling auf Befehl, wenn nicht des Kronprinzen (Rupprecht, Anm. d. Red.) selber so doch der Königspartei, insbesondere der Damen, die dabei eine wichtige Rolle hinter der Szene spielten, den Ausnahmezustand mit Herrn von Kahr an der Spitze erklärt, um an dem darauffolgenden Sonntage (Leibertag) eine große monarchistische Demonstration, eventuell auch die Erklärung der Monarchie, ins Werk setzen zu können."
Es sollte alles noch viel schlimmer kommen
Das Verbot des "Völkischen Beobachters" setzt Lossow nicht um - er fragt lieber bei Kahr nach, ob dem das recht wäre. Das ist es nicht, Kahr weist Lossow an, das Gebot auf keinen Fall umzusetzen. Lossow gibt das brav an Berlin durch mit der Begründung, es würde sonst möglicherweise Erbitterung in der vaterländischen Bewegung gegen die Reichswehr geschaffen.
Geßler setzt Lossow daraufhin ab. Kahr und die bayerische Regierung reagieren "mit offener Meuterei", wie Historiker Hagen Schulze schreibt: Kahr habe Lossow als "bayerischen Landeskommandanten" eingesetzt und "ließ die Truppe mittels einer geeigneten Eidesformel durch die bayerische Regierung 'in Pflicht nehmen' Das war der offenste Verfassungsbruch, den die Reichsgeschichte seit 1871 kannte, der schlichte Hochverrat".
Für viele Menschen in jener Zeit ist die hochbrisante politische Lage noch ein weiterer Schlag, oder es interessiert sie vielleicht gar nicht mehr, weil es um ihre Existenz geht: In Berlin, so verzeichnet es das Deutsche Historische Museum, kostet ein Laib Brot 10,37 Millionen Mark, ein Kilo Rindfleisch 76 Millionen Mark. Der Reallohn sinkt demnach auf 40 Prozent des Vorkriegsniveaus, der Preis für ein Essen im Restaurant kann sich während des Speisens verdoppeln, und Kriminelle reißen Opfern die Goldzähne heraus. Konnte alles noch schlimmer werden? Es konnte.