"Ihn zu pflegen, ist mein Leben"

Ingrid Kensy (71) versorgt ihren bettlägerigen Mann daheim. Wie das Münchner Ehepaar lebt, warum es Hilfe braucht.
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24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche: Ingrid Kensy versorgt ihren Mann daheim – und kommt darum selbst kaum mehr aus der Wohnung. Fotos: Petra Schramek
Petra Schramek 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche: Ingrid Kensy versorgt ihren Mann daheim – und kommt darum selbst kaum mehr aus der Wohnung. Fotos: Petra Schramek

Ingrid Kensy (71) versorgt ihren bettlägerigen Mann daheim. Wie das Münchner Ehepaar lebt, warum es Hilfe braucht.

Carlo G. (84) liegt erschöpft im Bett. „Ich bin immer viel gereist und jetzt komm’ ich aus meinem Zimmer nicht mehr raus“, erzählt der gelernte Drucker. Früher hat er sogar an der amerikanischen Elite-Universität Havard gearbeitet.

Eine schwere Diabeteserkrankung, ein Schlaganfall und dann auch noch ein Herzinfarkt haben Carlo G. zu einem Pflegefall gemacht. Seinen vollen Namen möchte er nicht nennen, aus Furcht, dass ehemalige Kunden sehen, wie schlecht es ihm heute geht.

Dass G. überhaupt noch zu Hause sein kann, verdankt er der Frau, die neben ihm auf seinem Krankenbett sitzt und seine Hand hält: Ingrid Kensy. Täglich kümmert sich die 71-Jährige um ihren „Carli“: Wäscht ihn, füttert ihn, zwingt ihn sanft zu seinen wichtigen Gymnastikübungen: „Deshalb ist er so grantig mit mir“, sagt sie lachend. So, als könne sie all den Schmerz und die Pein mit ihrer Energie wett machen. Denn auch Ingrid ist nicht gesund.

Früher, da waren die beiden umtriebige Leute. Mitten in der Innenstadt, in der Utzschneiderstraße, verkauften sie Schnitzsachen und Drucke. Die Münchner Prominenz ging bei ihnen ein und aus: Adlige, Unternehmer, Bürgermeister, alle kamen sie und bestellten Drucke. Noch heute fangen die Augen des gebürtigen Schwabingers zu leuchten an, wenn er sich daran erinnert: „Das Drucken ist mein Leben, so gerne würde ich wieder eine Druckerei eröffnen.“

Doch die Krankheit änderte alles: Erst Carlos Diabetes, dann traf auch seine Frau Ingrid Kensy der erste Schicksalsschlag: Brustkrebs. „Als ich die Diagnose bekommen habe, habe ich mich in die Ecke gesetzt und geweint“, erzählt sie. Immer war sie so fidel und energiegeladen gewesen – auch Carlo hatte sie ganz sportlich beim Tennis kennen gelernt. Und plötzlich war da dieser Tumor, der unglaublich schnell wuchs und ihren Körper zu zerstören drohte.

Die Behandlung war lang und schmerzhaft. Sechs Mal kam der Krebs zurück, acht Operationen musste sie erdulden. Elf Jahre ist das jetzt her, doch immer noch hat Ingrid Kensy Angst, der Krebs könnte wiederkehren: „Bei dieser Krankheit kann man nie wissen.“ Die Chemotherapie und ein kleiner Schlaganfall haben sie nachhaltig geschwächt.

Krankheiten bestimmten plötzlich auch das Leben ihres Mannes Carlo, den sie vor 30 Jahren geheiratet hatte. Er erlitt Schlaganfälle und Herzinfarkte. Dazu kam die Schwerhörigkeit: Selbst mit Hörgerät tut er sich schwer, jedem Gespräch zu folgen. Das erfolgreiche Geschäft, undenkbar, es unter diesen Voraussetzungen weiterzuführen.

Heute ist die Druckerei Geschichte, die Rente mager: 50 Euro pro Woche zum Leben – mehr haben die beiden nicht zur Verfügung. Der Staat hilft nicht. Das Paar fällt durchs Raster, weil die Rente von insgesamt 1018 Euro fünf Euro zu hoch liegt, um Grundsicherung zu bekommen.

Die vielen Kontakte von früher, auch sie sind Geschichte. Kaum ein Gast verirrt sich in die Wohnung im Münchner Norden. Es ist still geworden um das Paar, einsam. Nur die vielen alten Teddys, das einzige Hobby von Ingrid Kensy, leisten ihnen Gesellschaft.

Das alles wäre irgendwie auszuhalten gewesen. Vor zwei Jahren aber musste Carlo G. auch noch wegen eines Darmverschlusses und Leistenbruchs operiert werden. Und kurz darauf wurden ihm drei Zehen amputiert – Diabetes. An Aufstehen war nicht mehr zu denken.

Die Ärzte schickten Carlo ins Altenheim, seine kranke Frau könne sich nicht angemessen um ihn kümmern, meinten sie. Doch im Heim ging es ihm nicht gut. Ingrid Kensy erzählt von überlasteten Pflegern, die ihren Mann oft im Nassen liegen ließen, oder das Essen an einen vom Bett weit entfernten Tisch stellten – unerreichbar für den hungrigen Patienten, der ja nicht mehr laufen konnte. Sie besuchte ihn täglich, fuhr quer durch die Stadt, um selbst für ihn zu sorgen.

Irgendwann wollte sie nicht mehr mitansehen, wie Carlo immer ausgemergelter wurde: „Es war ohnehin schwer, die 200 Euro für das Heim dazuzuzahlen.Und dann wurde sich nicht mal mehr richtig gekümmert“, sagt Ingrid Kensy. Also holte sie ihn Anfang des Jahres nach Hause. Seitdem ist sie 24 Stunden für ihn da, sieben Tage die Woche. Weckt ihn morgens, indem sie eine halbe Stunde über seine Bettdecke streicht. Geht dann für ihn zum Bäcker, um ihm seinen täglichen kleinen Luxus zu kaufen: Eine Semmel – auch wenn der Diabetes das eigentlich nicht erlaubt.

Ihr eigenes Leben hat sie hintangestellt. Freunde besuchen? Verreisen? Undenkbar. Durch Carlos Bettlägrigkeit ist auch Ingrid Kensy fast nur noch daheim. Raus kommt sie nur selten. Wenn sie zur Krebsvorsorge muss etwa. „Mit der Straßenbahn nach Schwabing reinzufahren: Für mich ist das wie Weihnachten und Ostern zusammen.“ Eine Minute für sich zu haben, das ist unbezahlbar für sie.

Der Pflegedienst, der täglich kommt, ist nur bedingt eine Entlastung: „Jeden Tag kommt jemand anderes.“ Das bedeutet nicht nur jeden Tag eine neue Bezugsperson, sondern auch jeden Tag einen Fremden mehr, der Einblick in Intimes bekommt – eine unangenehme Situation für das Paar.

Ohnehin trägt Ingrid Kensy die Hauptlast der Pflege, auch finanziell. Denn die Krankenkassen zahlen viele der Pflegeprodukte nicht, die sie täglich braucht. Manche Cremes kosten über 40 Euro. Eine Mammutinvestition, wenn selbst fürs Essen täglich nur fünf Euro drin sind.

Dazu kommen Scherereien mit Firmen und Ämtern: Sie würden die Pflege daheim noch erschweren, sagt Ingrid Kensy. Dadurch, dass sie wichtige Pflegeprodukte nicht lieferten, oder Carlo zurück ins Heim stecken wollten. Doch die resolute Frau gibt nicht auf. „Ihn zu pflegen ist mein Leben, ich nehme alles auf mich, um ihn zu schützen“, sagt die 71-Jährige.

Und so wacht sie Nacht für Nacht an seinem Bett, lauscht Carlos Atemzügen, versucht seine Schmerzen zu lindern. Ein paar Pflegeprodukte für Carlo, eine leichtere Decke und Schlafanzüge, das sind ihre bescheidenen Weihnachtswünsche, für die das Geld trotzdem nicht reicht. Ingrid Kensy selbst bräuchte endlich wieder gute Winterkleidung und Schuhe. Ihr größter Wunsch ist aber: Einmal durchschlafen, ohne Angst und Sorge. Doch der scheint derzeit unerfüllbar.

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