"Ich sehe mit meinem Gefühl": Ben (15) ist blind - und surft im Eisbach
München - Am Samstag ist er wieder am Eisbach gewesen mit seinem schwarzen Neopren und dem leuchtend gelben Helm. Er ist auf seinem Brett in die tosende Welle geglitten, balancierte mit ausgebreiteten Armen - um nach dem Sprung ins eisige Wasser wieder ans Ufer zu schwimmen. Genau wie all die waghalsigen jungen Leute der Münchner Surferszene, die hinterm Haus der Kunst den Zuschauern ein aufregendes Schauspiel bieten.
Wer es nicht weiß, bekommt es gar nicht mit: Ben Neumann (15), muskulöse 1,86 Meter groß, ist blind. Aber er reitet die Eisbachwelle fast jede Woche, bei jedem Wetter, auch im Winter. Wie schafft er das?
AZ: Ben, wie fühlt sich der Moment an, bevor du springst?
BEN NEUMANN: Anfangs war da schon Adrenalin, da war ich natürlich aufgeregt. Aber inzwischen bin ich vertraut mit der Welle, ich freue mich auf den Sprung.
Der Eisbach ist zwischen den Kanalwänden hier nur zwölf Meter breit. Die Surfbretter schießen mit irrem Tempo hin und her, stoppen oft nur wenige Zentimeter vor der Wand. Wie orientierst du dich?
Das Meiste ist Gefühl. Die stehende Welle ist nicht ganz eben zwischen den Wänden, sondern es gibt Unruhen darin. Zum Beispiel gibt es links und rechts, ein Stück entfernt von der Wand, jeweils einen Wellenhügel. Der entsteht durch die Brückenpfeiler, an denen das Wasser vorbeirauscht. Ich spüre, wann der Hügel kommt, und weiß, kurz dahinter muss ich umdrehen.
Spürst du diese Wellenhügel nur, oder hörst du sie auch?
Ich muss alle anderen Sinne zu Hilfe nehmen. Ich orientiere mich also auch am Geräusch der Welle und mit dem Gefühl auf meiner Haut.

Gibt es Dinge, die du siehst?
Am Eisbach nicht mehr. Ich habe links außen noch ein kleines Sehvermögen, da kann ich hell und dunkel sehen, auch sehr grobe Konturen auf etwa einem halben Meter. Aber von der Welle und von meiner Umgebung auf der Welle kann ich nichts mehr sehen. Bestenfalls Lichtblitze, und die verwirren mich. Darum schließe ich auf der Welle oft die Augen.
Sein Vater unterstützt Ben vom Ufer aus
Du hast einen Funkknopf im Ohr, damit dein Vater, der immer dabei ist, dir etwas zurufen kann. Was sagt er dir?
Mein Papa hilft mir größtenteils an Land. Wenn ich zum Beispiel aus dem Wasser komme, sagt er mir die Stufe auf dem betonierten Vorsprung an. Er sagt mir, wie viele Surfer vor mir in der Schlange sind, wann ich aufrücken kann, wann ich am Einstieg richtig stehe.
Auf dem Wasser selber bist du quasi allein?
Meistens schon. Außer, wenn ich vor dem Drehen mit der Brettspitze zu weit nach vorne an die Brücke gerate. Dann sagt er es mir.

Wenn du am Ende ins Wasser gesprungen oder gefallen bist, wie findest du an Land?
Ich muss erst mal hinspüren, wo ist oben und unten, notfalls, indem ich den Fuß zum Flussboden runterstrecke. Dann spüre ich, in welche Richtung treibt es mich? Wenn ich dann aus dem Walzwasserbereich raus bin, halte ich mich flussabwärts links, schwimme an Land und gehe mit meinem Brett im Wasser an der Wand entlang zurück bis zur Stufe auf dem betonierten Podest und steige auf den hölzernen Querbalken. Ab da stehe ich ja schon wieder in der Schlange an.
Wie oft bist du gefallen, bevor du das erste Mal länger auf der Welle stehen konntest?
Oft. Der Eisbach ist keine gute Welle für Anfänger, hier ist die Verletzungsgefahr groß, man sollte wissen, wie man ins Wasser fällt. Darum habe ich auf einer künstlichen Übungswelle in der Jochen-Schweizer-Arena geübt. Die ist eben, da gibt es keine Unregelmäßigkeiten und kein Weißwasser. Da habe ich es schon in der ersten Übungsstunde geschafft, ein paar Turns zu fahren.
Vermutlich, weil du auch Skifahren kannst, oder?
Bestimmt, ich fahre Ski, seit ich drei bin. Damals habe ich noch gesehen. Dass mein Sehvermögen eingeschränkt ist, hat man erst bei einer Routineuntersuchung in der ersten Klasse festgestellt - und auch, dass es ganz verschwinden wird, dass man nichts für mich tun kann.
"Viele haben lange nicht gemerkt, dass ich blind bin"
Dein gelbes Blinden-Shirt hast du nach zwei Jahren auf der Welle neulich zum ersten Mal getragen. Davor warst du nicht als blind erkennbar für die Szenesurfer. Wie sind die mit dir umgegangen?
Viele haben das einfach lange gar nicht gemerkt. Das Blindenzeichen auf meinem Helm mit den drei schwarzen Punkten haben viele für ein Logo gehalten. Irgendwann hat es sich dann herumgesprochen.

Und welche Reaktionen bekommst du?
Die anderen finden das schon cool, glaube ich.
Es gibt rasante Ski-Videos von dir auf Instagram, da hört man, wie dein Vater dir auf der Piste ansagt, wann du in die Kurve gehen musst.
Stimmt. Skifahren, ohne zu sehen, war anfangs schon eine Überwindung, weil ich da ja ins Ungewisse fahre. Inzwischen macht mir das riesig Spaß.
Ben fährt auch Skate- und Wakeboard
Und es gibt ein Segel-Video von dir auf dem Eibsee. Da bist du erst neun Jahre alt.
Da hatte ich noch keinen Funk im Ohr, sondern ein Walkie-Talkie an der Schwimmweste.
Mal umgekippt mit dem Boot?
Oft. Unzählige Male. Aber damit bin ich gut klargekommen. Ich bin ein guter Schwimmer und der See ist nicht so groß. Mein Vater war am Ufer höchstens einen halben Kilometer weg und hatte noch ein Boot. Ich habe keine Angst gehabt.

Skateboard und Wakeboard fährst du auch noch. Hast du schon mal einen schwereren Sportunfall gehabt?
Nein, nie. Nichts gebrochen, keine Bänderrisse, nichts außer ein paar Beulen.
Gerade machst du den Realschulabschluss. Was kommt danach?
Ich peile das Abitur an, was dann kommt, weiß ich noch nicht.
In deinem Instagram-Namen steckt "no limits", also "keine Grenzen". Woher nimmst du die Sicherheit für all das, was du machst?
Über ganz viele Übungsschritte. Und natürlich die Unterstützung meiner Eltern.
Interview mit Ben Neumann: Der Schüler (15), der in Garmisch lebt, hat mit sechs Jahren seine Sehkraft verloren, fährt aber Skateboard, Wakeboard, Ski, Snowskate, spielt Schlagzeug und kann beim Wellenreiten locker mit den Szeneprofis an der Eisbachwelle mithalten. Letzte Woche hat ein Surfer ein Video mit Ben auf der Videoplattform Tiktok hochgeladen. Von dort gelangte es auf den Account Pubity auf Instagram - und ist in fünf Tagen über sieben Millionen Mal angeschaut und über 600.000 Mal gelikt worden. Mehr von Ben Neumann findet man auf Instagram unter: @ben.no_limits
- Themen:
- Haus der Kunst
- München