„Ich kann gar nicht verlieren“

In „Klein-Anatolien“ an der Landwehrstraße wird gezittert – manchmal auch für beide Teams. Ob Fan oder Fachmann, ob Vater oder Ehefrau, im Stammviertel der Türken gehen die Emotionen hoch – es gibt auch gemischte Gefühle.
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Er interessiert sich nicht für Fußball - aber der Bub, der ist gut! Tuncer Kilic zeigt stolz das Foto seines Sohnes: Mustafa (13) spielt für Fenerbahce.
Martha Schlüter Er interessiert sich nicht für Fußball - aber der Bub, der ist gut! Tuncer Kilic zeigt stolz das Foto seines Sohnes: Mustafa (13) spielt für Fenerbahce.

MÜNCHEN - In „Klein-Anatolien“ an der Landwehrstraße wird gezittert – manchmal auch für beide Teams. Ob Fan oder Fachmann, ob Vater oder Ehefrau, im Stammviertel der Türken gehen die Emotionen hoch – es gibt auch gemischte Gefühle.

Im Sommerwind flattern die Fähnchen. Viele in Schwarz-rot-gold – und noch viel mehr in Rot mit einem sichelförmigen Mond und einem weißen Stern darauf. Nirgendwo ist „Türkiye“ so präsent wie hier, im Dreieck Schwanthaler-, Landwehrund Goethestraße. Viele der 43 026 Türken, die in München leben, arbeiten hier – und nahezu alle zittern heute Abend mit, wenn im Halbfinale die türkische Nationalmannschaft gegen die deutsche antritt.

So wie Gemüseverkäufer Bülent Yalcin (36). Er ist in Deutschland geboren, wuchs in Bad Reichenhall auf und hat viele deutsche Freunde. „Auf dem Land gab’s kaum Türken“, sagt er. Und trotzdem: Wenn er am Mittwoch das Spiel anschaut, „beim Divan Kebab, nebenan, mit zwanz’g, dreiß’g Leit“, wie er in perfektem Bairisch sagt, schlägt sein Herz „fürs Vaterland“. Wer das ist? „Die Türkei natürlich!“ Gegen die deutsche Mannschaft hat der Mann aus der Goethestraße freilich auch nichts, aber Daumen drücken – „Naa, wirklich ned“, sagt er, lacht und wirft eine Wassermelone wie einen Fußball in die Luft. 2:1 ist sein Tipp. Toi, toi, toi. Hülya Krug nimmt’s entspannter. Vor 29 Jahren verliebte sich die Export-Managerin eines türkischen Konzerns in Istanbul in den feschen Bertold Krug aus Deutschland. 13 Jahre später heirateten die beiden – und Hülya zog nach Deutschland. Sie sei eine stolze Türkin, erzählt die 55-Jährige, die heute im eigenen Elektro-Geschäft in der Schwanthalerstraße zwischen Handys, Fernsehern und anderem Technik-Krimskrams steht. „Ich habe noch meinen türkischen Pass, und sobald ich türkische Lieder höre, bekomme ich Sehnsucht.“

„Alles ist möglich“

Wenn im TV die Spieler auf den Platz laufen, ist sie trotzdem zwiegespalten. „Ich kann eigentlich gar nicht verlieren, nur gewinnen“, sinniert sie. Auch optisch hat sie das klar gemacht: Aus dem Wohnzimmerfenster, das überm Laden liegt, hängen zwei Fahnen, die deutsche und die türkische. „Alles ist möglich“, sagt die Frau mit dem türkischen Vor- und dem deutschen Nachnamen. „Wenn die Türkei so spielt wie gegen Tschechien und Deutschland sowie gegen Kroatien ist auch für die vermeintlich schwächeren Türken alles drin“, sagt sie augenzwinkernd. Abwarten!

In 100 Meter Luftlinie Entfernung schlendert Tuncer Kilic (37) über die Landwehrstraße und begutachtet Trikots auf einem Wühltisch im Freien. Der gelernte Steinbildhauer überlegt kurz: Soll er eines für seinen Sohn Mustafa kaufen? Nein, entscheidet er, es dauert noch ein bisschen bis der 13-Jährige wieder nach München kommt. Beim Turnerbund in Giesing habe Mustafa Fußball gespielt. Jetzt ist er eine der Nachwuchshoffnungen bei Fenerbahce. „Fenerbahce Istanbul, verstehen Sie?“, sagt der stolze Vater.

Das Team ist Rekordmeister der „Turkcell Süper Lig“ und eine der bekanntesten und beliebtesten türkischen Mannschaften. Eigentlich, erzählt Tuncer Kilic, der seit 23 Jahren in München lebt, habe er sich ja nie groß für Fußball interessiert, bis der Mustafa halt so ein Talent gezeigt habe. Damals sei der Bub zwölf gewesen und habe an einem Probetraining von Fenerbahce teilgenommen. „Sie fanden ihn vielversprechend, wollten aber, dass er besser türkisch lernt“, so der Vater. Also blieb die Mama mit Mustafa und dessen Schwester Tugba (11) in Istanbul, die Familie pendelt jetzt zwischen der Stadt am Bosporus und „Klein-Istanbul“ an der Isar. Beim Thema EM ist der Papa weniger enthusiastisch. „Ich habe doch null Ahnung“, meint er lachend. „Soll der bessere gewinnen!“ Und sein Sohn – der sei doch sicher für die Türkei, oder? „Nein, der schwärmt für die englische Liga.“ Praktisch, da konnte er sich das Mitfiebern diesmal ja von vornherein sparen. . .

Ihr Herz schlägt für die Türkei

Ein Stück die Straße runter sitzen Yasemin Özkan (21) und Mensure Polat (42). Die zwei Nagelstudio-Mädels gehen gerade die türkische Mannschaft durch. „Dass der Volkan nicht spielt, ist schon schade“, finden sie. Weil der gesperrte Keeper was kann, und weil seine Oberarmmuskeln gar nicht so schlecht aussehen, das muss mal gesagt werden. Dass ihre Herzen für die Türkei schlagen, versteht sich von selbst – auch wenn Yasemin in München geboren ist und Mensure seit 22 Jahren hier lebt. „Ich spreche mit meiner Familie türkisch, habe einen riesigen türkischen Freundeskreis, aber nur zwei, drei deutsche Freunde“, erklärt Yasemin das für sie Selbstverständliche.

Dass sie am Mittwoch auf der Leopoldstraße einen türkischen Sieg feiern wird, glaubt sie nicht. „Viele türkische Spieler sind verletzt oder gesperrt, und Schweini und Ballack sind schließlich auch ganz gut“, meint sie und streichelt Jack- Russel-Hündin Tyra, die laut Frauchen „für die Türkei bellt“.

Bülent Soyöz (31) hat ebenfalls vor, die Türken anzufeuern – und zwar, wenn alles gut geht, im Stadion. „Ein Freund will über die türkische Föderation Karten besorgen“, sagt der Besitzer eines Elektronikgeschäfts in der Landwehrstraße. Er hat einen deutschen Pass, aber: „Papier ist geduldig“, vor allem, wenn es ums „Vaterland“ geht, in dem Bülent schon länger nicht mehr war. Die türkische Fahne hat er vor seinem Laden gehisst: „Aber nur, weil die Deutschen so verdammt siegessicher sind.“ „Viel Glück“, wünscht die AZ beim Abschied. „Glück“, sagt der 31-Jährige, „brauchen wir nicht.“ Und grinsend: „Möge der bessere gewinnen.“

Daniela Transiskus

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