"Ich bin vorsichtiger geworden": So geht es jungen Juden in München seit dem Krieg
München - Ein langes Schriftband zieht sich am Treppengeländer über mehrere Stockwerke nach oben. Darauf zu lesen sind Namen: Judy Weinstein, Ariel Cunio, Tal Chaimi und zahllose weitere. Es sind die Namen der rund 240 Menschen, die von der Terrororganisation Hamas seit der Eskalation des Nahost-Konflikts am 7. Oktober aus Israel verschleppt und als Geiseln genommen wurden. Auf den Treppenstufen flackern kleine, elektrische Teelichter. Über manchen der Namen ist mittlerweile in blauer Schrift der Hinweis angebracht worden, dass die Geisel befreit wurde. Über anderen hingegen ist ein schwarzer Davidstern zu sehen: Er bedeutet, dass dieser Mensch in der Gefangenschaft ums Leben gekommen ist.
Jüdisches Helene-Habermann-Gymnasium in München: Schüler vergessen israelische Geiseln nicht
Die Namen der Geiseln im Treppenhaus aufzuhängen, sei für die Schulfamilie des jüdischen Helene-Habermann-Gymnasiums eine "sehr bewegende Aktion" gewesen, erzählt Schulleiterin Miriam Geldmacher Kultusministerin Anna Stolz (Freie Wähler), die an diesem Vormittag in die Schule gekommen ist, um Solidarität mit den jungen jüdischen Menschen zu zeigen. Beim Aufschreiben der Namen seien die Schüler ins Gespräch gekommen, die Gefangenen seien dadurch greifbarer geworden, erzählt Geldmacher. "Sie haben festgestellt, dass viele noch ganz jung sind."
Zahllose Geiseln sind Kinder, einmal hörte die Schulleiterin einen Schüler sagen: "Der ist ja genauso alt wie mein Bruder." Auch die Tatsache, dass teils vollständige Familien verschleppt wurden, habe die Schüler bewegt. Schnell wurde klar: Es sind nicht einfach nur Namen, hinter jedem steckt ein Mensch mit einer ganz persönlichen Geschichte. Das Schicksal der Menschen in Israel beschäftigt auch die jungen Juden in München, wie ein Schülersprecher sagt. "All diese Leute sind auch Teil unserer Schulfamilie. Wir vergessen sie nicht."
Solidarität in München: Kultusministerin Anna Stolz besucht die jüdische Schule
Sichtlich bewegt lässt sich Kultusministerin Stolz durch die Schule führen. Gerade eben erst ist sie von einer Reise nach Israel zurückgekommen, wo sie auch zwei verwüstete Kibbuzim besucht hatte. Die Bilder, die man in Deutschland in den Medien zu sehen bekomme, seien zwar sehr eindringlich, sagt Stolz. Sich die Lage direkt vor Ort anzusehen, sei aber noch einmal etwas ganz anderes. Sie habe viel Leid erlebt, aber auch Zusammenhalt. Auch deshalb sei es ihr ein Anliegen gewesen, den jüdischen Schülern in München ihre Solidarität zu zeigen.
Ein Signal, das Schulleiterin Geldmacher viel bedeutet, wie sie sagt. "Es ist ein wichtiges Zeichen, dass wir nicht allein sind." Ihren Schülerinnen und Schülern geht es trotz der schwierigen Situation gut, wie sie sagt, "sie sind relativ stabil". Man habe seit Beginn des Kriegs die Sicherheitsmaßnahmen verstärkt, damit die Schule "ein sicherer Hafen" für die Kinder bleibt. "Sie bekommen Routine und Stabilität."
Sie lassen sich nicht unterkriegen, diese Botschaft vermittelt die Schulfamilie an diesem Vormittag. Für die Kultusministerin haben Schüler aus der fünften, sechsten und siebten Klasse ein Lied einstudiert. "Jede Biene, die den Honig bringt, braucht auch den Stachel, um komplett zu sein", singen sie. "Wir bedanken uns sowohl für das Süße als auch für das Bittere", erläutert Eitan Küppers-Levi, der in der Schule als Fachleiter für Hebräisch zuständig ist. "Es ist ein sehr bewegendes Lied, das gut zu dieser Zeit passt."
So geht es jüdischen Schülern in München seit Beginn des Kriegs
"Persönlich geht es mir gut. Ich habe selbst keine direkten Verwandten in Israel, aber einige Freunde, die betroffen sind. Eine Freundin von mir kennt einige der Gefangenen. An der Schule haben wir auch viele, die aus Israel kommen. Trotzdem hat sich hier nichts verändert. Die Stimmung in der Schule ist weiter fröhlich, die Schüler haben auch keine Angst", sagt der erste Schülersprecher und fügt hinzu: "Natürlich wurden die Sicherheitsmaßnahmen verschärft, das merkt man schon. Wenn man in der Stadt unterwegs ist, muss man vorsichtig sein. Man konnte schon früher nicht offen Kippa tragen, jetzt ist die Lage noch angespannter geworden. Wir gehen aber weiterhin in die Synagoge und treffen Freunde. Ich hoffe, dass der Konflikt schnell zu Ende ist und dass die Gefangenen alle wieder nach Hause kommen."
Eine Schülerin sorgt sich um Familie und Freunde in Israel. "Die Situation nimmt einen sehr mit. Ich versuche, nicht viel in den sozialen Medien unterwegs zu sein: Es ist frustrierend, zu sehen, wenn dort immer wieder ,Free Palestine' gepostet wird. Ich habe Familie in Israel und auch Freunde, die jetzt im Militär sind. Zu ihnen habe ich momentan leider nicht viel Kontakt. Natürlich bin ich besorgt um sie. Mein Leben hat sich schon verändert seit dem 7. Oktober. Man muss mehr aufpassen, was man in der Öffentlichkeit trägt. Ich bin da vorsichtiger geworden", erzählt die 17-Jährige.
Und sie sagt: "In der Schule hat sich aber nichts verändert. Wir zeigen Solidarität, aber ich kann weiter frei meine Meinung äußern und anziehen, was ich will. Ich hoffe, dass alle Geiseln befreit werden und dass jeder sein Leben weiterleben kann. Für Deutschland wünsche ich mir, dass der Antisemitismus aufhört, dass ich meine Religion weiter ausüben kann und dass das keine negativen Auswirkungen auf mein Leben hat. Ich glaube, es ist möglich, aber ich weiß nicht, wie lange es dauern wird."