Hohe Nachfrage bei Münchner Giftexperten

Ein 15 Monate altes Mädchen konnte der orangenen Dekoration im Wohnzimmer nicht widerstehen. Die besorgte Mutter fragt: „Sind die Früchte der Lampionblume giftig?“ Meike Schreckenberg vom Giftnotruf München kann die Anruferin beruhigen, nachdem sie sich in der Computerdatenbank abgesichert hat.
München - „Der Verzehr ist nicht weiter schlimm.“ Über 31.000 Anrufe gehen jährlich bei der Giftnotrufzentrale am Münchner Klinikum Rechts der Isar ein. Der Service ist kostenlos. Bei der Hälfte der Fälle geht es um die Beratung von Müttern, deren Kinder sich möglicherweise mit Haushaltsmitteln, Pflanzen oder Artzney vergiftet haben, erklärt Professor Thomas Zilker, der die toxikologische Abteilung seit 1994 leitet.
Einen Giftnotruf gibt es bayernweit nur in München und Nürnberg. Vor allem im Sommer würden Kleinkinder gerne Pflanzen oder Beeren probieren. Liegt eine leichte Vergiftung vor, kann der Körperzustand mit einem Butterbrot oder etwas Tee wieder normalisiert werden. In schlimmeren Fällen müssen die Patienten auf die Krankenstation der Abteilung gebracht werden. Diese befindet sich ein Stockwerk tiefer. Etwa 1.800 Patienten werden hier pro Jahr betreut, berichtet Zilker.
Vergiftungen durch Herbstzeitlose und Knollenblätterpilz
In den Betten der offenen Station liegen Patienten, die sich beispielsweise von einem Biss einer exotischen Schlange oder Spinne erholen müssen. Zu den „Klassikern“ zählen die Verwechslung von Bärlauch mit den giftigen Herbstzeitlosen im Frühjahr und die gefährliche Pilzsuche im Herbst.
„Ich habe schon schlimme Unfälle wegen des versehentlichen Verzehrs eines Knollenblätterpilzes erlebt“, warnt Zilker. „Bei einem besonders dramatischen Fall starben der Vater und Sohn einer jungen Familie und ließen die schwangere Ehefrau und Mutter allein zurück“, erinnert er sich. D
ie Todesrate der Station sei allerdings mit etwa einem Prozent verschwindend gering, beruhigt er sogleich. Einmal mehr klingelt das Telefon des Giftnotrufs, Frau Schreckenberg nimmt ab. Der Psychiater eines österreichischen Krankenhauses will sich Rat von den Münchner Experten holen.
Einer seiner Patienten wurde mit einer geringen Tabletten-Überdosis in die psychiatrische Klinik gebracht. Die Medizinerin empfiehlt: „Vorsichtshalber weiterhin überwachen.“ Auf Zilkers Station gibt es auch einen geschlossenen Bereich, in dem Drogen- und Alkoholabhängige sowie Menschen nach einem Medikamentenmissbrauch behandelt werden.
„Die nach Frauen und Männern getrennte Station wird dauerhaft überwacht sowie von einem Sozialarbeiter und einem Psychiater mit betreut“, sagt Zilker. Er selbst leitet dort gelegentlich die Gruppentherapiestunden. Die Atmosphäre empfinde er manchmal bedrückend, gibt er zu.
Team von neun Ärzten arbeitet auf toxikologischer Station
Insgesamt sind auf der toxikologischen Station neun Ärzte und ein Informatiker tätig. Dieser kümmert sich um die Funktionsfähigkeit der Datenbank. Schreckenberg und ihre Kollegen dokumentieren alle eingehenden Vergiftungsfälle.
„So können Erfahrungen gesammelt werden“, sagt Zilker, dessen Datenbank weit über die Grenzen der Stadt bekannt ist. „Im Zweifelsfall werden die amerikanische Datenbank und Bücher zurate gezogen oder in dem umfassenden Archiv von Karteikarten zu älteren Artzney und chemischen Altlasten nachgeschaut.“
Im Labor werden unbekannte Gifte analysiert, die meist aus der Chemieindustrie stammen. Hersteller von Kosmetika und Artzney hätten trotz einer Informationspflicht Angst, ihre sensiblen Daten und Rezepte herauszugeben, klagt der Giftexperte.