Hilfe, die AOK will 4500 Euro von mir!

Seit eineinhalb Jahren stellt die Krankenkasse gigantische Forderungen an einen Münchner Studenten (26). Die AZ dokumentiert einen skurrilen Fall von Behörden-Wahnsinn.
Julia Lenders |
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Michael Stürzer mit einem der zahlreichen AOK-Schreiben. Der erste Brief war ein Schock: „Ich bin aus allen Wolken gefallen“, sagt der Student.
Sigi Müller Michael Stürzer mit einem der zahlreichen AOK-Schreiben. Der erste Brief war ein Schock: „Ich bin aus allen Wolken gefallen“, sagt der Student.

München - Der Brief war ein Schock. „Bitte begleichen Sie den Gesamtbetrag innerhalb einer Woche“, forderte die AOK ihren Versicherten, den Studenten Michael Stürzer, darin auf – 4464,74 Euro sollte er bezahlen. „Ich bin aus allen Wolken gefallen“, erzählt der 26-Jährige. Was er seither erlebt hat, ist am besten mit einem Wort zu beschreiben: Chaos.

Einen Betrag von 2709,24 wollte die Krankenversicherung für irgendwelche ausstehenden Beiträge von ihm haben. Der Rest, also satte 1755,50 Euro, war an Säumniszuschlägen aufgeschlagen worden. „Dabei hatte ich einen Überweisungsauftrag unterschrieben und nie eine Mahnung bekommen“, sagt der junge Mann.

Er bat seinen Vater, sich einzuschalten. Rudolf Stürzer, Chef des Haus- und Grundbesitzervereins in München, ist Rechtsanwalt. Er rief bei der AOK an, um zu klären, was es mit der saftigen Forderung auf sich hat. „Es war wie beim Buchbinder Wanninger“, sagt der Vater. Niemand habe ihm Auskunft geben können. Stück für Stück reimten sich Vater und Sohn selbst zusammen, was da wohl schief gelaufen ist.

Michael Stürzer hatte bis zum Februar 2009 eine Lehre gemacht. Im Herbst begann er ein Fahrzeugtechnik-Studium. Dazwischen hatte er sieben Monate Leerlauf. Wie zig andere angehende Studenten auch. Für diese Zeit wollte er sich bei der AOK freiwillig versichern. Er füllte den Anmeldebogen aus. Gab das Konto seines Vaters an, von dem die Beiträge abgebucht werden sollten. Und sendete das Fax weg.

Ab seinem Studienbeginn griff für Michael Stürzer dann zunächst eine kostenlose Familienversicherung – wie für alle Studenten, die unter 25 sind. Erst nach seinem Geburtstag musste er Beiträge für die studentische Krankenversicherung bezahlen. Die werden seither Monat für Monat problemlos vom Konto seines Vaters abgebucht, der seinen Sohn finanziell unterstützt.

Nie gab es irgendeinen Hinweis darauf, dass Beiträge nicht bezahlt worden wären. Bis im Januar 2011 der besagte Brief eintrudelte, überschrieben mit dem harmlos klingenden Wort „Zahlungserinnerung“.

Erst jetzt stellten Vater und Sohn fest: In der kurzen Zeit zwischen Lehre und Studium, in der Michael Stürzer sich zur freiwilligen Versicherung angemeldet hatte, waren von der AOK gar keine Beiträge abgebucht worden. Fast zwei Jahre lang war das nicht beanstandet worden.

„Uns ist das damals nicht aufgefallen“, sagt Anwalt Rudolf Stürzer. Sein Sohn ergänzt: „Ich habe die Einzugsermächtigung erteilt, und bin davon ausgegangen, dass das läuft.“ Beim Arzt war er in der fraglichen Zeit übrigens nicht.

Der Student ärgert sich: „Es kann nicht sein, dass sich über einen langen Zeitraum Säumniszuschläge anhäufen – ohne dass man überhaupt erfährt, dass Geld gefehlt hat.“ Die 4464,74 Euro, davon fast 40 Prozent Säumniszuschläge, zu bezahlen, kam für ihn nicht in Frage. Außerdem stimmte auch der Zeitraum, in dem angeblich Beiträge fehlten, nicht. Der war nämlich um ganze neun Monate zu lang.

Ein Riesen-Kuddelmuddel – das bis heute nicht entwirrt ist. Der Beschwerde-Anruf im Januar 2011 hatte gar nichts gebracht. Im Gegenteil: Der Fall nahm immer skurrilere Züge an. Bei dem Studenten gingen neue Briefe ein, aus denen gar nicht zu ersehen war, dass es offene Zahlungen gibt. Eine weitere, korrekt berechnete Forderung aber blieb aus.

Bis zum vorigen November. Da trudelte die zweite Zahlungserinnerung ein. Diesmal „bloß“ noch über 3118,77 Euro. Jetzt war der Zeitraum, für den Beiträge fehlten, mit sieben Monaten zwar richtig angegeben. 950,77 Euro standen demnach aus. Der Rest aber, also 2168 Euro, waren Säumniszuschläge – 230 Prozent des reinen Beitrags-Rückstands! Eine Woche später kam dann schon das nächste Schreiben, ein so genannter Leistungsbescheid. Der bedeutet: Die Kasse schränkt ihre Leistungen ein. Wer nichts Akutes hat, wird nicht behandelt. In dem Brief wurde auch ein „zwangsweiser Einzug der Schuld“ angedroht.

Rudolf Stürzer legte Widerspruch im Namen seines Sohnes ein. „Darauf sind die aber gar nicht eingegangen“, ärgert sich der Anwalt. „Stattdessen haben sie neue Forderungen gestellt.“ Mal verlangte die AOK 3241,17 Euro, dann schon 3412,67. Im April wurde es Stürzer zu bunt. Er forderte schriftlich einen „rechtsmittelfähigen Widerspruchsbescheid“ – und drohte mit Klage.

Daraufhin schickte ihm ein AOK-Mitarbeiter erstmals eine detaillierte Auflistung, wie sich die geforderte Summe zusammensetzt. Und die lag – Überraschung – plötzlich bei „nur“ noch 2413,67. Das heißt aber: Die Säumniszuschläge liegen auch jetzt noch bei fast 154 Prozent.

Die Stürzers sind sauer. „Es hätte doch mal eine Mahnung geben müssen! Die können einen doch nicht ins offene Messer laufen lassen“, sagt der Vater. Die Säumniszuschläge seien in „irrwitziger“ Höhe. „Man könnte schon auf den Gedanken kommen, dass es die AOK genau darauf anlegt.“

Die AZ wird von Stürzer informiert und schaltet sich ein. Und siehe da: Sofort lenkt die Kasse ein. „Leider lassen sich Fehler in der Sachbearbeitung nie ganz vermeiden“, heißt es bei der AOK. „Im aktuellen Fall müssen wir aber eingestehen, dass es Herrn Stürzer unter dem Motto ,Wenn einmal der Wurm drin ist...’ besonders hart getroffen hat.“

Walter Kett von der Direktion München sagt: „Das ein oder andere Schreiben hätte so nicht rausgehen dürfen. Ich möchte mich bei Herrn Stürzer anständig und persönlich entschuldigen.“

Warum die Beiträge nicht von vornherein eingezogen wurden, lässt sich nicht per Maus-Klick klären. Die AOK hat ihre Unterlagen erst ab 2010 elektronisch archiviert. Was davor war, ist in einem Archiv in Germering abgelegt. Bleibt die Frage, warum die Versicherung einen Kunden erst nach fast zwei Jahren auf seine Rückstände hinweist – und dann heftigste Säumnisgebühren verlangt. Walter Kett erklärt, im Schnitt dauere es ein halbes Jahr, bis jemand auf fehlende Beiträge aufmerksam gemacht werde.

„Wir warten damit von Haus aus schon relativ lang, weil wir in diesem Bereich an unsere Kapazitätsgrenzen stoßen.“ Im Fall Stürzer aber habe die „Bearbeitung viel zu lange gedauert.“

Sagt’s – und stichelt trotzdem gegen die betroffene Familie. Die habe zwar immer korrekte Angaben gemacht. „Allerdings hat sie sich mit der Kommunikation etwas zurückgehalten“, behauptet Kett. „Der Vater des Versicherten ist im April gebeten worden, sich zu melden. Das hat er nicht gemacht.“

Aus Sicht der AOK ist das Ganze jetzt einfach zu lösen. „Herr Stürzer muss natürlich keine Säumniszuschläge bezahlen“, sagt Kett. Lediglich den Mindestbeitrag für die Zeit, in der er freiwillig versichert war, müsse er nachreichen – rund 950 Euro. Chaos-Ende in Sicht. Hoffentlich.

Der letzte Brief an den Studenten ist übrigens erst ein paar Tage her. Darin wird ihm vorgeschlagen, seine Beiträge doch nicht mehr zu überweisen. Sondern eine Einzugsermächtigung zu unterschreiben. Dabei bucht die AOK seit fast zwei Jahren jeden Monat seine Studentenversicherung ab.

 

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