Hier spricht der Vater der getöteten Zwillinge
Freising - Am Mittwoch jährt sich das unfassbare Verbrechen von Bianca T. aus Freising. Am 13. November 2012 erstickte die damals 38-jährige Bäckereiverkäuferin ihre sechsjährige Tochter Anna-Lea und die vier Monate alten Zwillinge Fabian und Lisa. Anschließend raste sie auf der A92 in Selbstmordabsicht gegen eine Leitplanke. Sie überlebte aber. Morgen beginnt in Landshut der Prozess.
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Wie geht es dem Vater der Babies ein Jahr nach der Tat? Norman H. war damals im Isar-Amper-Klinikum in Taufkirchen wegen einer schweren Depression in Behandlung. Bianca T. schrieb ihm jedes Mal, wenn sie ein Kind getötet hatte, eine SMS. Norman H. hat die Klinik erst im März verlassen. Die AZ traf ihn am vergangenen Wochenende in seiner Wohnung in Freising. Der 41-Jährige arbeitet wieder als Internetspezialist.
Norman H. versucht, nach vorne zu schauen. Doch die Kinder sind immer da. In seinen Gedanken, in seinem Herzen. Mit der Geburt der Zwillinge war für ihn ein Wunschtraum in Erfüllung gegangen. Und Anna-Lea, die aus einer früheren Beziehung von Bianca T. stammte, wuchs mit bei ihm auf, sie war für ihn wie eine eigene Tochter.
Im Wohnzimmer, in einem Regal unter einer Uhr, bewahrt Norman H. zwei kleine Gefäße auf, die die Nabelschnüre von Lisa und Fabian enthalten. Davor liegen die Schnuller, an denen sie genuckelt haben. Einer ist hellblau, einer rosa, die Namen der Kinder stehen darauf.
„Mir ist mulmig, wenn ich an den Prozess denke“, sagt Norman H. zur AZ. In einer Woche wird er als Zeuge aussagen müssen. Er hätte das gern vermieden. Aber er muss, das sei seine „Staatsbürgerpflicht“. Geht er nicht hin, droht ihm ein Ordnungsgeld oder sogar Ordnungshaft. Es ist das erste Mal, dass er sie wiedersehen wird: Die Frau, die ihm alles genommen hat. „Ich habe an diesem Tag vier Menschen verloren, vier Menschen, die ich geliebt habe“, sagte er kurz nach der Tat. Auch Bianca T. ist für ihn gestorben.
Vom Prozess erhofft er sich nichts. „Die Gesellschaft verurteilt sie. Aber die Kinder kommen nicht wieder. Sie hat ihre Strafe. Jede Minute, die sie lebt. Sie muss weiterleben mit diesen Bildern.“ Aber ihn quält auch die Frage: „Wo ist meine Schuld?“ Er fragt sich, ob er mehr nach ihrer Vergangenheit hätte fragen sollen, ob er hätte „tiefer bohren“ müssen. „Vielleicht waren wir beide zu naiv. Man fängt nicht einfach bei Null an, wenn man eine Beziehung eingeht.“ Er fragt sich, was gewesen wäre, wenn. Wäre die Tragödie auch geschehen, wenn die Ursache seiner Depression früher erkannt worden und er nicht in der Klinik gewesen wäre? Es sind Fragen, die nichts bringen. Das weiß er.
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Sie war sicher überfordert, glaubt er. Die Familie war in finanziellen Schwierigkeiten, der Vermieter hatte gekündigt, sie war allein mit den Kindern, sie hatte Angst vor dem Jugendamt. Bianca T. hat noch drei weitere Kinder aus früheren Beziehungen, für die sie schon damals kein Sorgerecht mehr hatte. Sie fürchtete wohl, dass ihr auch Anna-Lea und die Zwillinge weggenommen werden würden. Aber es war Unterstützung in Sicht. In der Woche hätte sie wieder einen Termin bei der Caritas gehabt.
Norman H. beschreibt Bianca T. als eine Frau, die sehr konsequent ist. „Wenn sie etwas wollte, hat sie es durchgesetzt. Dann war sie davon nicht mehr abzubringen.“ So tötete sie auch ihre Kinder. Eines nach dem anderen. Sie ließ nicht mal von ihrer Tochter ab, als Anna-Lea zu ihr sagte, sie wolle heute nicht sterben.
Er hat drei Briefe bekommen von Bianca T. Einen, in dem sie versuchte, ihm etwas zu erklären und um Erinnerungsstücke von den Kindern bat. Einen mit einer Besuchskarte. Und einen, in dem sie ihm kondolierte, nachdem er im Februar auch noch seine Mutter (60) verloren hatte. „Meine Mutter ist an gebrochenem Herzen gestorben.“ Norman H. hat keinen der Briefe beantwortet. Er hat sie alle zerrissen und weggeworfen.Auch ihre SMS sind längst unwiederbringlich gelöscht.
Norman H. hat in der Klinik Klaudia (38) kennengelernt. Auch sie hat in der Vergangenheit furchtbare Dinge erlebt. „Wir sind uns ohne Masken begegnet“, sagen beide. Aus langen gemeinsamen Gesprächen und Spaziergängen wurde mehr. „Wir lachen miteinander. Das ist die beste Medizin, die es gibt“, sagt Norman H.
Klaudia war an seiner Seite, als seine Mutter starb. Sie richtete seine Wohnung neu ein, während er noch in der Klinik war. Sie gestaltete mit ihm das Grab der Zwillinge am 1. Juli - dem Tag, an dem sie ein Jahr alt geworden wären. „Ich bin immer für ihn da. Das schweißt zusammen“, sagt sie.
Norman und Klaudia haben vor Kurzem geheiratet. Einige aus seinem Umfeld haben darauf mit Unverständnis reagiert – warum so schnell? „Wann wäre der richtige Zeitpunkt gewesen?“, fragt Norman H. zurück.
Wenn der Prozess vorbei ist, wollen Norman und Klaudia H. an den Stadtrand ziehen ins Grüne mit Klaudias Sohn aus erster Ehe, dem wuscheligen Welpen, den sie vor vier Wochen von einem Züchter in Thüringen abgeholt haben, der Hauskatze Tiffy und den beiden Zwergkaninchen.
Die Gefäße mit den Nabelschnüren, die Schnuller und die Erinnerungen ziehen mit.
Norman H. sagt, er lebe für seine Kinder weiter – „weil sie es nicht mehr können“.