Hier spielt ein 18-Jähriger mit seinem Leben

Roofing, ein irrer Trend aus Moskau, ist jetzt auch in München angekommen. Dabei klettern Jugendliche auf hohe Gebäude und fotografieren sich am Abgrund. Wir haben einen von ihnen getroffen.
München - Sie essen gerne am PC? Jetzt gerade? Bevor Ihnen schlecht wird, sollten Sie vielleicht lieber eine kleine Pause machen. Oder erstmal ins Sportressort weiterklicken. Denn das hier ist kein Sport. Das ist Wahnsinn.
Sie sind ja immer noch da. Gut, aber behaupten Sie später nicht, wir hätten Sie nicht gewarnt. So, und jetzt bitte nochmal vorsichtig auf das große Foto oben scrollen. Und wieder hierher. Nein, das ist kein Photoshop, keine Montage. Das ist Daniel.
Beziehungsweise, es sind seine Füße. Wie sie vom Dach einer Münchner Seniorenresidenz baumeln. Er sitzt direkt an der Kante.
Ein Windstoß, eine Böe, eine Unkonzentriertheit – und Daniel steht morgen im Polizeibericht. „Tödlicher Unfall zum Nachteil eines 18-Jährigen“ würde es im Beamtenjargon wohl heißen.
Keine Katzenbabys, sondern Abgründe
Durch Zufall hat die AZ das Foto auf Facebook entdeckt. Dort postet er keine Hundebabys, keine witzigen bis dämlichen Videos wie andere Jugendliche. Sondern: Abgründe. Die unter Häusern, Baukränen und Sendemasten.
Es sind so genannte „Selfies“. Aber statt seines Gesichts sind Daniels Schuhe zu sehen. Umrahmt von Straßen, Landschaft und Luft.
Wir wollen ihn treffen. Er will den Ort aussuchen: McDonald’s am Stachus. Wo 18-jährige Münchner halt so hingehen. Fußball, Tennis, Kino, mit Freunden abhängen: Eigentlich ist Daniel ja auch ein normaler 18-Jähriger – wäre da nicht sein lebensgefährliches Hobby, das „Roofing“, wie der Fachbegriff lautet, vom englischen Wort „Roof“ für Dach abgeleitet.
Ein Vorbild aus Russland
Hunger hat Daniel - blonde Haare, strahlend blaue Augen, Holzfällerhemd - bei unserem Termin um 14 Uhr nicht. Er sei gerade erst aufgestanden. Osterferien. Die Einstiegsdroge zu seiner Adrenalinsucht, erzählt er der AZ, ist bei ihm Parkour gewesen, eine Art Großstadthindernislauf, der in einer Sportanlage im Münchner Umland unter Aufsicht simuliert wird.
Im Internet googelt Daniel nach „Parkour“, findet Videos von Menschen, die über Mauern, Häuserschluchten, Autos und Telefonzellen springen. Von dort aus ist es virtuell kein weiter Weg mehr zu den Bildern von Marat Dupri.
Marat Dupri ist in Russland so bekannt wie Lady Gaga im Westen. Er kann nicht singen, er kann klettern. Dupri hat die höchsten Gebäude der Stadt bestiegen. Ohne Sicherung, am Rande des Abgrunds und der Legalität.
Dafür hat er sogar Geheimdienste ausgetrickst. Eines seiner spektakulären Fotos, Sie sehen es oben in der Bilderstrecke, wurde 2011 mit dem „Best of Russia“-Fotopreis geehrt. Zahlreiche russische Jugendliche eifern ihm nach. Einige sind dabei ums Leben gekommen.
Für Menschen mit klarem Verstand ist Marat Dupri ein lebensmüder Irrer. Für Daniel ist er ein Vorbild.
Warum München „schwierig“ ist
Vor drei Monaten fasst er mit seinem 17-jährigen Freund Christian den Entschluss: Das machen wir auch in München. Eine Woche lang spazieren die beiden Jugendlichen durch die Stadt, nicht mit dem heute üblichen Blick nach unten aufs Handy – sie schauen nach oben. Auf Giebel, Firste, Erker, Balkone, Masten – und nach Überwachungskameras.
Die Bilanz fällt ernüchternd aus: München sei „schwierig“, sagt Daniel. Überall Kameras. Und unten alles verschlossen.
„Wir wollen keine Türen eintreten“, erklärt der 18-Jährige. Auch die Frauenkirche hätten er und sein Freund „abgecheckt“. „Zu heftig. Da kommt man nicht hoch. Schon alleine wegen der Zacken.“
Dem Altenheim aufs Dach steigen
Fündig werden sie im Stadtteil Laim. Wo, schreiben wir nicht. Es ist ein hohes Gebäude, 90 Meter hoch. Eine Seniorenresidenz. Die Empfangsdame soll nett gelächelt haben, als Daniel und Christian an ihr vorbei ins Treppenhaus gehen. Dass sie nicht ihre Oma besuchen wollen, sondern dem ganzen Altenheim aufs Dach steigen, konnte sie ja nicht ahnen.
Die großen Rucksäcke wären ein Hinweis gewesen. Darin haben Daniel und Christian ihre Ausrüstung. Keine Kletterhilfen, sondern drei Dinge: Kamera, Stativ, Apfelsaft.
Alkohol? „Geht gar nicht“, empört sich Daniel, auf einmal vernünftig. Oben müsse man unbedingt nüchtern sein. Konzentriert. Drei, vier Stunden bleiben sie auf dem Dach. Genießen die Aussicht, den Sonnenuntergang, machen Fotos.
Höhenangst im Kindergarten
Dafür rutschen sie bis direkt an die Kante. „Ein krasses Gefühl, unter einem nichts“, sagt Daniel, der früher Höhenangst gehabt haben will, dem sogar das Klettergerüst im Kindergarten Respekt einflößte.
Jetzt sei seine größte Angst, erwischt zu werden. Das wäre „peinlich“. Sozialstunden und Geldstrafen seien „nicht so toll“.
Dass er mit seinem Leben spielt, scheint ihm nicht bewusst zu sein. Auch der Freundeskreis des Realschülers ist da wenig hilfreich. Seine Fotos bekommen viele Likes, Zeichen der Anerkennung auf Facebook. Ins Gewissen redet ihm keiner. „Pass bitte auf“, schreibt Marc Z. Das war’s.
Hackerbrücke, Uptown-Hochhaus und BR-Zentrale
Und die Eltern? Wissen es offiziell nicht. „Meine Mama ahnt es, glaube ich“, sagt Daniel. In letzter Zeit nimmt sie ihn fest in den Arm, wenn er das Haus verlässt, bittet ihn, vorsichtig zu sein.
Draußen sucht er trotzdem nach neuen Zielen, schaut sich die Hackerbrücke an, die BR-Zentrale am Rundfunkplatz und das Uptown-Hochhaus.
In den Pfingstferien will er nach Warschau reisen. Wegen gewisser Sehenswürdigkeiten. Und er spart sein Taschengeld: für Dubai, die Stadt der Wolkenkratzer.
Eine neue Kamera und zwei Videos
Gerade hat Daniel 2000 Euro investiert, in eine Kamera, eine Canon EOS 6D. Die Bilder, abends mit langer Belichtung aufgenommen, sollen schließlich etwas werden.
„Wir wollen eine kleine Pause machen“, schreibt Daniel der AZ vorgestern per SMS. Und schickt am selben Abend zwei frische Videos.
Nummer 1 dauert 80 Sekunden. Daniel hat eine Kamera an seinem Kopf angebracht. Sie filmt, wie er auf einen Baukran kraxelt, sich keuchend an den roten Metallsprossen hochzieht.
Zwischendurch schaut er auf die Lichter der Großstadt. Und nach unten in die schwarze Tiefe. Da irgendwo ist sein Freund Christian, der hinterherklettert. Leise. In den Containern nebenan schlafen die Arbeiter.
Das zweite Video zeigt den Abstieg. Der geht schneller. Nach 54 Sekunden ist Daniel unten angekommen. Christian wartet schon auf der Baustelle. In der letzten Sekunde sieht man, wie sich die beiden Teenager abklatschen.
Die Verabschiedung von der AZ, beim Gesprächstermin am Stachus, fällt weniger herzlich aus. Daniel wirkt unkonzentriert. Immer wieder schweift sein Blick ab – zum Dach des Justizpalasts.