Helgard Bromberger: Ihre Flucht 1961 durch den Abwasser-Kanal

Vor 58 Jahren flüchtete Helgard Bromberger aus Ost-Berlin in den Westen der Stadt. In der AZ erzählt die Wahl-Münchnerin nun zum ersten Mal von jener Nacht, in der sie unter Todesangst durch die Berliner Kanalisation geschlichen ist.
von  Ralph Hub
Helgard mit ihrem Vater Karl, Ehemann Helmut und Mutter Hildegard.
Helgard mit ihrem Vater Karl, Ehemann Helmut und Mutter Hildegard. © Repro

München - "Ich krieg’ heute noch Herzklopfen, wenn ich an die Zeit zurückdenke", sagt Helgard Bromberger. Am 2. Oktober 1961 flüchtete die damals gerade 18-Jährige nachts mit ihrer Freundin Helga aus Ost-Berlin, kurz nach dem Mauerbau.

Am Abend des 12. August 1961 ist Helgard Bromberger auf einer Party bei Freunden in der Nähe des Bahnhof Zoo in West-Berlin. "Bis Mitternacht bist du aber wieder zu Hause", sagte ihre Mutter. Die Familie lebt damals im Stadtteil Prenzlauer Berg, im Osten der Stadt. Rüber in den Westen fährt Helgard Bromberger mit der S-Bahn.

Bei der Rückfahrt einige Stunden später gibt es plötzlich Probleme. "Der Zug hielt am Bahnhof Friedrichstraße und fuhr nicht weiter", erinnert sich die heute 76-Jährige. "Ich habe mir deshalb ein Taxi genommen."

Helgard mit ihrem Vater Karl, Ehemann Helmut und Mutter Hildegard.
Helgard mit ihrem Vater Karl, Ehemann Helmut und Mutter Hildegard. © Repro

Helgard Bromberger: "Ich fühlte mich wie eine Gefangene"

Am nächsten Tag steht die Welt Kopf. Am Bahnhof Greifswalder Straße kommt sie an einer Plakattafel vorbei. "Berlin ist geteilt", steht drauf. Die Sektorengrenze zum Westen wird von schwer bewaffneten Sicherheitskräften bewacht. Überall versperren Hindernisse mit Stacheldraht den Weg, auf den Straßen werden Betonsteine aufeinander gemörtelt. Arbeiter mauern an Häusern mit Front zum Westen Fenster und Türen zu – die Mauer quer durch die Stadt wächst unaufhaltsam, zerschneidet Stadtviertel, trennt Freunde und Familien.

"Ich war von einem Tag auf den anderen eingesperrt in der Stadt, ich konnte mich nicht mehr frei bewegen", sagt Helgard Bromberger, "ich fühlte mich wie eine Gefangene. Ich wusste, ich muss hier weg." Helgard Bromberger fasst einen Entschluss, der sie wegen Republikflucht ins Gefängnis bringen hätte können – oder sogar Schlimmeres.

Heimlich bespricht sie sich mit ihrer Freundin Helga. Deren Verlobter lebt bereits in West-Berlin. "Alleine hätte ich mich nie getraut", sagt Helgard Bromberger. Sie ist entschlossen, alles zurückzulassen, ihre Geschwister, ihre Eltern, ihren Job als Stenotypistin in einem Verlag in Ost-Berlin.

Hunderte Menschen fliehen durch die unterirdische Kanalisation von Ost- nach West-Berlin, bis der Einbau von Gittern (hinten) neue Wege erzwingt. Hier ein Foto aus dem Jahr 1990, auf dem Arbeiter die letzten dieser Fluchtgitter entfernen.
Hunderte Menschen fliehen durch die unterirdische Kanalisation von Ost- nach West-Berlin, bis der Einbau von Gittern (hinten) neue Wege erzwingt. Hier ein Foto aus dem Jahr 1990, auf dem Arbeiter die letzten dieser Fluchtgitter entfernen. © Bundesarchiv

Helgard Bromberger: So nehmen die Fluchtpläne Gestalt an

Helgard Bromberger sieht sich in der Stadt um. Sie sucht nach Schlupflöchern, noch sind die Absperrungen improvisiert und lückenhaft. Doch mit jedem Tag wird es schwieriger, die Hindernisse zu überwinden. Die beiden Mädchen suchen Kontakt zu Leuten, die ihnen bei ihrem waghalsigen Unternehmen helfen können.

Ihre Fluchtpläne nehmen langsam konkrete Formen an. Aber: Sie leben in ständiger Angst, dass die Stasi von der Sache Wind bekommt. "Wir fürchteten, dass wir von jemandem verraten werden könnten", sagt Helgard Bromberger.

Sie lernen einen Theologiestudenten kennen. Er hat Pläne vom unterirdischen Kanalsystem der Stadt besorgt. Für Helgard und Helga die Chance, unentdeckt in den Westteil Berlins zu kommen? In der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober ist es so weit. "Es war ein Montag, das weiß ich noch, als sei es gestern gewesen", sagt Helgard Bromberger.

Helgard Bromberger 1975 bei einer Familienfeier.
Helgard Bromberger 1975 bei einer Familienfeier. © Repro

Helgard Bromberger: Ihr Fluchthelfer kam aus Österreich

Abends steht ein junger Mann aus Österreich vor der Tür. Er ist Fluchthelfer. Der Mann trägt eine Motorradmontur: "Schönen Gruß von Freunden aus West-Berlin", sagt er zur Begrüßung. Damit Helgard Bromberger weiß, dass sie es nicht mit einem Polizeispitzel zu tun hat, zeigt der Fremde ein Foto von der Party am 12. August. "Wir erfuhren den Treffpunkt, eine Ruine 'Unter den Linden'."

Ihre Eltern sind ahnungslos. Gegen 21 Uhr sagt Helgard Bromberger zu ihnen: "Ich bringe Helga noch zur nächsten Straßenecke." Helgard trägt ein grünes Kostüm, dazu Schuhe mit halbhohen Absätzen – so als würde sie ausgehen und in ein paar Stunden zurück sein. Nichts deutete daraufhin, dass sie nie mehr zurückkehren würde.

"Ich durfte mich von meinen Eltern nicht verabschieden, durfte sie nicht einweihen, ihnen alles erklären“, erzählt Helgard Bromberger. Die 76-Jährige kämpft mit den Tränen. Noch heute quält sie die Erinnerung an den Abschied. Es sollte viele Jahre dauern, bis sie ihre Eltern wiedersah.

August 1961: Die Mauer wächst – hier am Potsdamer Platz.
August 1961: Die Mauer wächst – hier am Potsdamer Platz. © dpa

Helgard Bromberger über die Nacht, die ihr Leben für immer veränderte

Helgard Bromberger lässt alles zurück. Nichts soll sie auf der Flucht behindern. Das Grundstück mit dem vereinbarten Treffpunkt ist groß, überall stehen im Krieg zerstörte Häuser. Es gibt viele dunkle Ecken, die Straßenbeleuchtung ist spärlich. Sieben Menschen kommen zum Treffpunkt. Darunter ein älteres Ehepaar.

Der Mann ist kriegsversehrt, erlitt Erfrierungen an beiden Füßen. Weil er Probleme beim Gehen hat, müssen er und seine Frau zurückbleiben. Fünf brechen schließlich auf, Helgard Bromberger, ihre Freundin und drei junge Männer. Sie sind entschlossen, das Äußerste zu wagen.

Gegen 1 Uhr nachts klettern sie in der Nähe der U-Bahn-Station Spittelmarkt in einen Regenwasserkanal. Die Röhre ist etwa einen Meter hoch. "Wir mussten in die Hocke gehen, um vorwärtszukommen", sagt Helgard Bromberger. Im Kanal ist es dunkel. Ratten huschen durch die Finsternis, Insekten krabbeln umher. Zum Glück ist der Boden trocken.

Helgard Bromberger heute.
Helgard Bromberger heute. © Daniel von Loeper

Helgard Bromberger: Im Westen angekommen, in der Nähe vom Moritzplatz

Mühsam quälen sich die Fünf in der Hocke vorwärts. Die Strecke ist gut zwei Kilometer lang. "Mir kam es vor, als würde sie nie enden", sagt Helgard Bromberger. Vorsichtig setzen sie einen Fuß vor den anderen. Halten immer wieder an. Lauschen in die Dunkelheit. Über ihnen an der Kochstraße stehen Wachen.

Helgard Bromberger: "Die Grenzposten waren über uns durch jeden Kanal zu hören." Sie wagt kaum, zu atmen. Kein Wort, kein Geräusch – jeder Laut hätte die Gruppe verraten können. Nach einer gefühlten Ewigkeit taucht schließlich ein rostiges Metallgitter auf. Es versperrt die Röhre und soll ursprünglich bei Regen offenbar Treibgut aufhalten.

In der Mitte des Gitters klafft ein Loch. Gerade groß genug, dass sich ein Mensch durchzwängen kann. "Ich hab das Licht einer Taschenlampe gesehen und ein fremdes Gesicht", sagt Helgard Bromberger. Mit den Füßen voraus steigt sie in das Loch. Jemand packt sie an den Beinen und zieht.

In der Nähe vom Moritzplatz kommt die Gruppe wieder an die Oberfläche. Sie sind im Westen angekommen, in der Freiheit. Fluchthelfer bringen sie zu einem hellen VW Bus, der in der Nähe der Feuerwache parkt. "Wir waren alle total aufgeregt", sagt Helgard Bromberger. Dann trennt sich die Gruppe. Erst Monate später erfährt Helgard Bromberger, dass ihr Fluchthelfer, der Österreicher mit der Motorradkluft, tot ist, erschossen an der innerdeutschen Grenze.

Oktober 1961: amerikanische und russische Panzer (hinten) am Checkpoint Charlie.
Oktober 1961: amerikanische und russische Panzer (hinten) am Checkpoint Charlie. © dpa

Helgard Bromberger im Westen: Angst ist ihr ständiger Begleiter

Im Auto geht es zur Wohnung eines Freundes im Stadtteil Wilmersdorf. Sie bekommt einen Becher heißen Tee und kann sich endlich waschen. Morgens um 7 Uhr trifft Helgard Bromberger bei ihrem Onkel und ihrer Tante ein. Sie schicken ein Telegramm nach Ostberlin an die Familie: "Gesunde Tochter angekommen."

Helgard Brombergers Mutter Hildegard antwortet per Telegramm: "Herzlichen Glückwunsch. Patengeschenk folgt." Tage später trifft ein Brief mit 1.000 Ostmark ein – als Starthilfe für die Tochter.

Die Ost-Berliner Polizei meldet sich bei den Eltern. Sie erkundigen sich nach der Tochter. "Die Stasi hat meine Mutter gedrängt, mich zu überreden, dass ich wieder zurückkomme", erzählt Helgard Bromberger. Die Familie rechnet mit Repressalien. Doch die bleiben aus. Helgards Schwester darf weiter studieren. Die Eltern behalten ihre Firma.

Helgard Brombergers ständiger Begleiter aber ist die Angst. Sie fürchtet, dass man sie in ein Auto zerrt und sie gegen ihren Willen zurück nach Ost-Berlin schafft. In Briefen warnen die Eltern: "Geh' nicht alleine auf die Straße!" Am 25. Oktober 1961 droht die Lage in Berlin außer Kontrolle zu geraten. Am Checkpoint Charlie an der Friedrichstraße stehen sich russische und amerikanische Panzer feuerbereit gegenüber.

Helgard Bromberger kommt bei einem Onkel am Starnberger See unter

Helgard Bromberger hat Angst, dass West-Berlin an die DDR fällt. "Ich hab einen Koffer gepackt und mir ein Flugticket besorgt", sagt sie. Wenig später startet sie vom Flughafen Tempelhof aus in einer Passagiermaschine der Pan Am nach München-Riem.

Helgard Bromberger kommt bei einem Onkel am Starnberger See unter. Sie findet einen Job bei Siemens, wechselt später zum Springer-Verlag und arbeitet für "Bild". Bis Helgard Bromberger ihre Eltern wieder sieht, vergehen Jahre.

Weihnachten 1972 fährt sie über die Transitroute im Auto nach Ost-Berlin. Am Übergang Bornholmer Straße wird sie von Grenzposten 30 Minuten aufgehalten. Dann erst darf sie weiter. Ihre Eltern wohnen inzwischen in Weißensee. "Ich hatte Angst, dass mich die Stasi bei der Ausreise abfängt", sagt Helgard Bromberger. "Ich hab’ einfach darauf vertraut, dass mich meine Chefs bei Springer rausholen, wenn es Ärger gegeben hätte."

Helgard Bromberger: Alle ihre Freunde leben in der DDR

1975 besucht Helgard Bromberger ihre Eltern erneut. Diesmal in Begleitung ihres Ehemanns Helmut. Das erste Mal, dass die Eltern ihren Schwiegersohn sehen. Auch dieser Besuch endet nach nur einem Tag. Die Eltern von Helgard Bromberger bleiben im Osten, wo sie eine kleine Firma betreiben. Alle ihre Freunde leben in der DDR.

Als im Herbst 1989 die Mauer fällt, geht für Helgard Bromberger ein Traum in Erfüllung. Als sie später ihre alte Heimatstadt besucht, geht sie durchs inzwischen wieder offene Brandenburger Tor. Helgard Bromberger: "Ich dachte damals, 'mein Gott, hat’s das alles gebraucht?'"

Lesen Sie hier: Bayern 1989 - Ankunft und Aufnahme der DDR-Geflüchteten

 

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