Hasen, Twist und Tollitäten

46 Tage, 150 000 Feiernde und nicht wenige davon prominent: Die Stadt war eine Hochburg des Faschings – und Poeten stürzten sich „in eine Orgie des Tanzes, die barbarisch schön war“.
von  Karl Stankiewitz
Man trifft sich – im Fasching: Margot Werner und Franz Josef Strauß 1974 im Deutschen Theater.
Man trifft sich – im Fasching: Margot Werner und Franz Josef Strauß 1974 im Deutschen Theater. © imago

München - Es schien, als käme er zurück, der überschäumende, sinnenfrohe, Triebe entfesselnde Münchner Fasching von einst, diese „fünfte Jahreszeit“ mit ihren Redouten und Maskeraden und Seitensprüngen, wovon jeweils anwesende Dichter geschwärmt hatten:

Wie reizend fand man dazumal ein menschenwarmes Festlokal; wie fleißig wurde über Nacht das Glas gefüllt und leergemacht – so reimte Wilhelm Busch.

Franziska zu Reventlow hatte „überhaupt noch keinen Karneval so erlebt wie diesen, so unendlich bewegt, so einmal in vollen Zügen“. Arnold Zweig stellte nüchtern fest: „Die kurze heftige Heiterkeit weniger Wochen durchschauerte die Stadt.“ Kasimir Edschmid stürzte sich in „in eine Orgie des Tanzes und Geschreis, die barbarisch schön war“.

Lesen Sie hier den ersten Teil der AZ-Serie "Münchner Fasching": Alles tanzt zur großen Glocke

 

Jedem Ball ein Motto – und wenn auch nur: „Weh dem, der fehlt“

 

Auch Erika und Klaus Mann erlebten in Ballsälen und Privatvillen ein wildes Vergnügen, was dem Vater Thomas einiges Missvergnügen bereitete. Es war 1958, als eine Statistik (besser wohl: eine Schätzung) das ganze Ausmaß des Faschingstreibens erfasste: In jenem Jahr – München feierte den Stadtgeburtstag – waren in den 46 Tagen (besser: Nächten) ungefähr 150 000 über Nacht närrisch gewordene Münchnerinnen und Münchner (und einige Zaungäste) auf 140 Bällen zugange.

Jeder Ball, jede Hochburg der Heiterkeit, hatte einen besonderen Stil oder ein besonderes Motto. Und wenn dieses nur lautete: „Weh dem, der fehlt.“ Das Haus der Kunst, das die Zuordnung „deutsch“ gestrichen hatte, hatten sich die organisierten Künstler angeeignet, weil ihr früheres Domizil, das Künstlerhaus am Lenbachplatz, noch eine Halbruine war. Aufwändig wurden die hohen, kühlen Hallen des Nazi-Kults von unten bis oben von prominenten Malern wie den Professoren Mac Zimmermann und Josef Oberberger ausgestaltet. Am schönsten waren die Dschungelfeste. Jazz-Größen ließen mit ihren Big Bands die Massen toben.

Jeden Januar und Februar wurde der sonst so nüchterne Musentempel zum Münchner Himmel, wo vorneweg Gott Amor seine Pfeile verschoss. Von den durchaus nicht kleinen Erlösen wurden übrigens die großen Kunstausstellungen finanziert. Für jedes dieser Feste benötigten die Veranstalter, ein Trio von Künstlergruppen, die Genehmigung des Hausherrn, des Kultusministeriums. Die blieb irgendwann aus und kam dann nicht wieder.

Ein etwas seriöseres Publikum lockte das wiederhergestellte Deutsche Theater mit seiner legendären Festbeleuchtung durch 200 künstliche Sterne und dem beliebten Weißwurstkeller. Highlights waren, neben den offiziellen Bällen von Vereinen und Innungen, der Bal paré, der Damen der Gesellschaft vorbehaltene Madame-Ball und der große Filmball.

Auf dem Presseball, ein Muss für Verantwortungsträger, mussten sich sogar Journalisten in Smoking oder Abendkleid zwängen. Franz Josef Strauß folgte mit Frau Marianne den Twist-Tönen von Max Gregers Saxofon, während Entwicklungsminister Walter Scheel die teils kriegerischen, teils exotischen, teils barbusigen Girls der Ballets Africains näher in Augenschein nahm. Besonders gerngesehene Gäste waren Mitglieder der Häuser Wittelsbach und Hohenzollern sowie der Aga Khan mit Gefolge.

 

Mit Hunter gehen die Stars zur – nun ja – Treibjagd

 

Das Deutsche Theater etablierte sich auch als die eigentliche Residenz der Narrhalla. Deren hochoffizielle Bälle – mit Einzug der Tollitäten, Ehrenjungfrauen, Edelknaben, Jungelfern, Präsidenten, Elferrat, Stadträten, mit Krönungsreden, Ordensverleihungen und weiteren Zeremonien – unterschieden sich allerdings von den eher anarchistischen Festen der Schwabinger, der Künstler und der Studenten wie eine Kölner Karnevalssitzung von einem Münchner Biergarten.

Im Hotel Bayerischer Hof entfaltete sich der Fasching ebenso hoheitsvoll. Zum Orientball von 1952 konnte Oberbürgermeister Thomas Wimmer in seiner hausbackenen Art den syrischen Generalkonsul, eine hochrangige Delegation aus Afghanistan sowie den spanischen Philosophen Ortega y Gasset begrüßen – Tempi passati.

Dem kreativen Team der Abendzeitung entsprang noch eine weitere Ball-Tradition: Im Bayerischen Hof veranstaltete Chefreporter Hannes Obermaier, der erstmals Klatsch sammelte und als „Hunter“ verbreitete, auf eigene Rechnung „Hunters Treibjagd“ und ähnliche Events, zwischen 1956 und 1974 insgesamt 40 Mal. Viele Stars und Möchtegern-Stars waren jeweils zugegen. Hier traten die Knef und Curd Jürgens erstmals auch als Sänger auf. Großzügig verstand der Hannes seine „Hasentreibjagden“ als „Sprungbrett fürs große Show-Geschäft“. (Ähnlich glanzvolle Prominenz konnte sonst nur noch Senator Franz Burda an die Isar lotsen). Dass die Stadt letztlich 199 699 Mark Vergnügungssteuer von ihm verlangte, bezeichnete der geschäftstüchtige Journalist in seinen Memoiren als „schlimmere Räuberei als bei den Wegelagerern im Mittelalter“.

Doch die Münchner frönten dem Faschingsvergnügen auch ein paar Nummern kleiner – und einiges davon blieb bis heute erhalten. Im Löwenbräukeller feierten sie mit den Damischen Rittern, die in komischen Blechrüstungen auf Holzpferdchen mit viel Gaudi-Getöse einritten. Garantiert befriedigten dort in der Bierhalle die Schaulust auch jene Bälle, die unter dem Motto „Schabernackt“ unzweideutig plakatierten. Schließlich wanderte auch die Große Glocke in den Löwenbräu ab, weil das Regina wieder ausschließlich Hotel sein wollte und auf seinen guten Ruf bedacht war. Erschien doch in der AZ wegen des Bildes eines sich küssenden Paares ein Leserbrief: dergleichen sei „für die Moral unserer Jugend und das Ansehen Ihrer Zeitung sicher nicht förderlich“.

 

Der Fasching öffnete ein Ventil in den Zeiten des Wirtschaftswunders

 

Zum Ausgleich ließ die AZ nun noch einen Ball namens „Traumschiff“ von Stapel. Im Schauspielhaus versammelte indes die „Traumkulisse“ alle namhaften Mimen und die allerschönsten Kostüme.

Nicht weniger fröhlich und ausgelassen als auf den Gala- und Schickimicki-Bällen, dafür ein gutes Stück volksnäher und jedenfalls preiswerter waren die Feste in weniger bedeutenden Wirtshäusern der Innenstadt, in Schwabing und draußen am Stadtrand. Alljährlich waren etwa 2000 Bälle solcher Sorte für den Faschingskalender angemeldet. Gern feierte man dort beispielsweise „Vorstadthochzeiten“ von vorgestern. Und die waren fast immer wirklich lustig.

Doch trotz anhaltendem Boom geriet der Münchner Fasching, der nach den langen Elendszeiten während des Wirtschaftswunders ein Ventil geöffnet hatte, immer mehr in ein ganz anderes, seichtes Fahrwasser. Er wurde zum bloßen Geschäft und verlor an Ursprünglichkeit. Am 23. Januar 1999 läutete zum letzten Mal die Große Glocke, obwohl sie inzwischen als „Junge Große Glocke“ beworben wurde. Große Teile der Jugend aber hatten sich längst von allerlei Traditionen verabschiedet.

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