Harter Schlag für Münchens OB Dieter Reiter: Prominenter Parteiaustritt bei der SPD

SPD-Stadtrat Nikolaus Gradl verlässt seine Fraktion und tritt aus der Partei aus. Was ihn dazu gebracht hat und was ihn besonders ärgert, hat er der AZ verraten.
von  Christina Hertel
Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) verliert einen Fachmann im Rathaus und die SPD ein Mitglied. Die AZ hat exklusiv mit dem scheidenden Stadtrat gesprochen.
Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) verliert einen Fachmann im Rathaus und die SPD ein Mitglied. Die AZ hat exklusiv mit dem scheidenden Stadtrat gesprochen. © Peter Kneffel/dpa

München - Am Montagvormittag um 11 Uhr will sich SPD-Stadtrat Nikolaus Gradl mit der AZ im Weissen Bräuhaus im Tal treffen, im ersten Stock. Das schrieb er per Whatsapp. Worum es geht? Das verriet Gradl nicht. Die Stühle stehen noch auf den Tischen. Er ist hier oben der einzige Gast.

Gradl ist derjenige in der SPD-Fraktion, mit dem die AZ meistens spricht, wenn es um Verkehr geht. Dass er aber nicht über den ÖPNV-Ausbau reden will, ist schnell klar, sonst säße gewiss ein Pressesprecher neben ihm. Diesmal geht es um ihn persönlich – und gleichzeitig um die SPD und die Stadtpolitik insgesamt.

Dann erzählt Gradl das, was er kurz vorher seinen beiden Fraktionschefs mitteilte: Er werde die SPD-Fraktion verlassen und aus der Partei austreten. Stadtrats-Mitglied wolle er aber bleiben, erst einmal als Fraktionsloser. Er sei aber offen für andere Parteien.

Vieles versprochen - wenig umgesetzt 

Es habe keinen konkreten Anlass gegeben. Vielmehr, so wird im Lauf des Gesprächs deutlich, hat sich bei Gradl in den vergangenen Monaten Frust angestaut. Zum Beispiel stört ihn, dass das Rathaus gut darin ist, zu versprechen – aber schlecht darin, Dinge umzusetzen.

SPD-Stadtrat Nikolaus Gradl verlässt seine Fraktion. Was ihn besonders ärgert, hat er der AZ verraten.
SPD-Stadtrat Nikolaus Gradl verlässt seine Fraktion. Was ihn besonders ärgert, hat er der AZ verraten. © SPD-Fraktion

"Es wurde versprochen, dass Menschen nicht mehr in Neubauviertel ziehen müssen, wo es keinen ÖPNV-Anschluss gibt", sagt er. Eine U-Bahn ist aber in Freiham in weiter Ferne. "Ein neuer Gasteig wurde versprochen", zählt Gradl auf. Doch noch ist nicht mal klar, wann die Sanierung überhaupt los geht. Und auch eine Fußgänger-Zone im Tal habe die Rathaus-Koalition angekündigt, genau hier im Weissen Brauhaus, mit einer großen Pressekonferenz. Doch auch dieses Versprechen wird so schnell wohl nicht erfüllt.

Was umgesetzt werde und was nicht, sei oft mehr dem Zufall geschuldet, wann das entsprechende Referat gerade seine Beschlussvorlage fertig habe. Eine große Vision für die Stadt vermisst Gradl allerdings. "Im Elfenbeinturm des Rathauses wird viel zu oft über die richtige Social-Media-Kommunikation diskutiert und nicht darum gerungen, welche Entscheidung die beste für die Münchner ist." Dieses Zitat hat Gradl aufgeschrieben und ausgedruckt.

Schimpfen will Gradl nicht über den OB 

Für die Strategie und die großen Linien ist Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) verantwortlich. Der hat seit Kurzem eine neue Social-Media-Beauftragte. Auf Instagram kann man seitdem sehen, wie der OB mit einem Hellen im Schanigarten sitzt oder Osterhasen auf dem Marienplatz verteilt.

Schimpfen will Gradl nicht über den OB. Auch nicht über die beiden SPD-Fraktionschefs Anne Hübner und Christian Köning. Doch auf die Frage, welche Rolle die Bundespolitik bei seiner Frage spielte, antwortet Gradl: "Ich hätte mir mehr Rückhalt für den Kanzlerkandidaten der SPD aus München gewünscht." Dieter Reiter machte im Wahlkampf kein Geheimnis daraus, dass ihm Verteidigungsminister Boris Pistorius lieber wäre als Olaf Scholz.

Er mache seit 30 Jahren Kommunalpolitik, sagt Gradl. Und das soll wohl heißen, dass er nicht aus der SPD austreten würde, wenn die Partei im Bund den Mindestlohn nicht schnell genug erhöht. Es geht ihm um München. In den 1990er Jahren war Gradl Vorsitzender der Jusos, 2002 wurde mit 25 Jahren der jüngste Stadtrat im Rathaus. Bis 2014 war er Teil der SPD-Fraktion. In der Amtsperiode danach kandidierte er nicht wieder, weil er Papa wurde. Er hat zwei Kinder mit der Grünen-KVR-Chefin Hanna Sammüller-Gradl. Inzwischen sind sie geschieden. 2020 zog er erneut in den Stadtrat ein.

"Die SPD war einmal der Motor der Stadt. Jetzt braucht sie einen Elektro-Motor", sagt Gradl bei diesem Treffen auch. Eine Anspielung darauf, dass er zu den Grünen wechseln will? Grundsätzlich sei er für alle Fraktionen offen, sagt er.

„Wir sind überrascht und traurig“, sagt SPD-Chefin Hübner zu der Entscheidung. Sie habe ihn fachlich und politisch geschätzt. Schade sei allerdings, dass er der Fraktionsspitze keine Möglichkeit gegeben habe, das Ganze zu diskutieren. So bleibe neben Dankbarkeit für seinen jahrelangen Einsatz auch Enttäuschung – und eine Forderung: Gradl müsse sein Stadtratsmandat abgeben. Schließlich habe er dieses nur wegen der SPD bekommen.

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